Quelle: Silesia in Compendio seu Topographia das ist Praesentatio und Beschreibung des Herzogthums Schlesiens. Pars I, modified by PetrusSilesius

Visuelles Babylon: Bildsprache von Gesellschaftsspielen

Die Bildsprache analoger Spiele befindet sich stetig im Widerspruch: Sie ist kognitiv komplex, soll aber im Zugang möglichst einfach sein. Sie wird für jedes Spiel irgendwie neu entwickelt. Dabei greifen Gestalter und Gestalterinnen tief in die Trickkiste der menschlichen Wahrnehmung. Und zurück auf gewachsene visuelle Kodierungen. Um irgendwo zwischen Erkennen, Verstehen und Sehen einen Ausweg aus dem Irrgarten der vielen gesprochenen Bildsprachen zu finden.

Dieser Beitrag stammt aus „Null Ouvert – Magazin für analoge Spielkultur“. Mehr Informationen zu dem Heft findet ihr in diesem Beitrag.

Wer Brettspiele öfter spielt, beginnt irgendwann, überall Spielmaterial zu sehen. Es ist unvermeidlich: Landkarten, Linien in der Sandkiste, U-Bahn-Fahrpläne, abstrakte Gemälde. Ist eine Struktur erkennbar, die uns an die eines Spiels erinnert, erkennen wir sie und beginnen, sie auch als solche zu deuten. Gleich seht ihr einen Plan, der die polnische Stadt Oppeln aus dem 18. Jahrhundert zeigt. Der Stadtplan befindet sich hier aber ursprünglich nicht wegen der klaren Struktur der Häuserblöcke, die uns dazu einlädt, kleine Holzfiguren darin zu platzieren, um Mehrheiten zu erringen. Auch den Drang, die Straßen der Stadt mit Holzstäbchen zu belegen, um dadurch Gebiete abzugrenzen, müssen wir uns noch einmal vernkneifen. Und mit unserem Pöppel von Kreuzung zu Kreuzung zu springen, lassen wir auch vorerst. Der Plan ist hier, weil er auch einen Pfeil abbildet – aber dazu später mehr.

Muster, Symbole und Formen in Spielen

In der Forschung gibt es unterschiedliche Ansätze, die versuchen, dieses Phänomen zu erklären. Also nicht den zwanghaften Drang, immer und überall Brettspielpläne zu sehen, sondern vielmehr unsere Fähigkeit, Muster zu erkennen, visuelle Strukturen sinnvoll zu verknüpfen, Dinge wahrzunehmen, die eigentlich gar nicht da sind. Und ganz nebenbei dabei so etwas wie Freude zu empfinden. Geht es also darum, zu verstehen, wie ein Symbol in unserem Kopf Bedeutung findet und in Bezug gestellt wird – sowohl mit einem realen Objekt als auch mit einer Art abstrakter Kategorie (Semiotik)? Oder um das mysteriöse Zusammensetzen und Erkennen eigentlich nicht vorhandener Formen (Gestaltpsychologie)? Oder noch grundlegender darum, wie unser Hirn wiederkehrende Strukturen überhaupt erkennen und verknüpfen kann (Musterekennung)?

Natürlich. Aber das klingt alles ausgesprochen abstrakt. Es gibt auch viele Zugänge, die sich ganz konkret am Kontext der alltäglichen Wahrnehmung abarbeiten. Die Signaletik (Wayfinding) hilft, zu verstehen, wie wir uns im Raum orientieren oder auch nicht. Die Comic-Forschung lässt uns nachvollziehen, warum wir statische Bilder in eine sinnvolle Sequenz bringen können, und der große Bereich der Gebrauchstauglichkeit (Usability) hieft die Problemstellung in den digitalen Raum. Aber so weit wollen wir gar nicht gehen. Wir bleiben sitzen. Am Tisch. Vor unserem Plan von Oppeln.

Quelle: Silesia in Compendio seu Topographia das ist Praesentatio und Beschreibung des Herzogthums Schlesiens. Pars I, modified by PetrusSilesius
Quelle: Silesia in Compendio seu Topographia das ist Praesentatio und Beschreibung des Herzogthums Schlesiens. Pars I, modified by PetrusSilesius

Und bitte nicht nachdenken, warum die Symbole in diesem Artikel zu Wörtern, Sätzen und Bildern im Kopf werden. Wir fragen uns ja, wie das mit den Brettspielen ist. Und da gibt es wenig Spezielles, viel Tradiertes und kaum Dokumentiertes. Aber im Kern dreht es sich um die Frage, warum und was wir im Spiel erkennen, warum wir dieses Erkannte mit Bedeutung und vielleicht sogar Regeln befüllen und wie sich Bildsprache in analogen Spielen entwickelt hat.

Pfeile als mächtige Symbole

 Und für den Ansatz einer möglichen Antwort schauen wir uns einmal beispielhaft einige ganz unterschiedliche Beispiele an.

Symbole helfen uns, schnell zu erfassen. Ohne textbasierte Sprache. Doch bleiben sie damit mehrdeutig und von der eigenen Erfahrung abhängig. Und es hilft, ihre (Kultur-)Geschichte zu kennen.

Der Pfeil ist ein altes und mächtiges Symbol. Er hat seine archaische Bedeutung als Zeichen des Krieges schon lange hinter sich gelassen. Mitte des 18. Jahrhunderts beginnen Zeichner von Karten und Konstruktionsplänen, den Pfeil als Symbol der Flussrichtung zu verwenden. Mit zunehmender Industrialisierung löst er schließlich den Fingerzeiger als Richtungssymbol auf und an Wegweisern ab. Heute ist der Pfeil allgegenwärtig und leitet uns durch eine visuell unheimlich komplex gewordene Welt. Auch in Brettspielen findet der Pfeil Einsatz: Einmal als Mahner für die Schrittrichtung der Spielfigur. Ein anderes Mal als sogenannter Umwandlungspfeil. Aus drei Kristallen werden da zwei Siegpunkte gezaubert. Aus zwei Schafen wird Nahrung für vier Personenscheiben. Und natürlich zeigt er auch immer an, worauf wir achten sollen: Selten auf Spielplan und Karten, vor allem aber in Spielregeln. Gebogen, lang, mit Schlaufe falls etwas umgedreht werden soll. Der Pfeil hat sich tief in unserem visuellen Verständnis verankert – ist stecken geblieben.

Und damit sind wir wieder in Oppeln. In der Stadtansicht zeigt der Pfeil die Flussrichtung des Wassers an. Eines der frühesten Beispiele für den nicht-kriegerischen Einsatz des Symbols. Bei der Gestaltung analoger Spiele bewegen wir uns also in einem Spannungsfeld wahrnehmungspsychologischer Beobachtungen und dem kulturhistorischen Kollektiv des Bildlichen.

Visuelle Code beruhend auf Erfahrungen

Der Pfeil ist dabei nur ein Beispiel unter vielen. Ähnlich spannend verhält es sich etwa mit Rahmen und Begrenzungen (Mauern, Buchmalerei) oder auch Charakterportraits (Ausweis, Steckbrief). Literatur zu dem Thema mag zwar nicht unmittelbar eine Brücke zum analogen Spiel herstellen, aber wer um die kulturelle Geschichte unserer Wahrnehmung weiß, kann visuell mit Metaphern arbeiten. So wie wir im Digitalen den Ordner als Behälter für verschiedenste Dateien verstehen, verstehen wir diese natürlich auch in nicht-digitaler Form. Die abgebildete Spielfigur, die abzugebende Münze, die offene Hand, die unser Einkommen symbolisiert.

Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz

Gerade für komplexere Spiele hat sich in den vergangenen vierzig Jahren so etwas wie ein gewachsener visueller Code entwickelt. Nicht immer stringent, aber dafür auf den spielerischen Erfahrungen beruhend.

Achtung, jetzt wird es interaktiv. Zeichne bitte mit wenigen Strichen eine Kirche auf ein Blatt Papier. Natürlich beeinflussen Dich die auf der Karte von Oppeln abgebildeten Kirchen. Und natürlich hast Du auch schon die Abbildung unten gesehen.

Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz

Trotzdem. Jede und jeder von uns wird die Kirche ein klein wenig anders zeichnen, aber die meisten werden wir als solche erkennen. Und das ist als Hirnleistung doch ziemlich beeindruckend. Wir kennen verschiedene visuelle Attribute einer Kirche, wir bröseln die zeichnerisch abstrahierte Kirche also in weitere kleine Teile auf. Und wenn sich da vielleicht sogar ein Kreuz auf einem spitzen Dach befindet, ist sowieso alles klar. Aber es gibt da eben noch das Problem, dass sich diese Erfahrungen überlagern und verschieben können. Die unten links stehende graue Form lesen brettspielaffine Menschen als „Stadt aus Catan“. Die Restpopulation sieht darin eher eine Kirche.

Wenn wir ein Symbol nicht eindeutig identifizieren können, greifen wir im nächsten Schritt auf den Kontext zu und suchen nach weiteren Hinweisen. Wenn wir also aus der catanischen Stadt eine Kirche machen wollen, brauchen wir irgend einen zusätzlichen Hinweis. Ein Symbol. Zum Beispiel ein Kreuz.

Interaktion mit gefühlt alten Medien

Wie ist es schaffbar, Menschen mit so statischem Material wie Papier durch das hochinteraktive System Brettspiel zu helfen? Der Begriff der Interaktivität ist in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im Kontext digitaler Medien schon etwas inflationär verwendet worden. Eine Abgrenzung fällt mittlerweile schwer. Wichtig ist, ob über die Interaktion mit einem anderen Menschen über ein Medium gesprochen wird oder die Interaktion mit dem Medium selbst. Dabei wirkt das analoge Spiel mit seinen zugrunde liegenden Materialien – Holz, Pappe, Papier, Plastik – eher passiv. Passive Medien lassen Informationen nur in eine Richtung zu. Also etwa vom Buch in den Kopf. Aber sobald das Buch andererseits einen Index hat, entsteht eine Wechselwirkung. Wir sind nicht mehr an den linearen Ablauf gebunden und können im Buch herumspringen.

Es sind genau diese kleinen Tricks, die die Interaktion mit gefühlt alten Medien so spannend machen. Was ist mit Papier alles möglich? Immer wieder Neues. Da durchbricht ein Escape Room Spiel die vierte Wand und wir müssen plötzlich den Schachtelboden herausnehmen, da werden wir aufgefordert Spielmaterial zu bekleben oder gar zu zerstören und manchmal muss auch das Licht ausgeschaltet werden. Dieses Spiel mit dem Medium ist kein Selbstzweck und nicht nur als Erfahrung reizvoll, sondern schafft auch Möglichkeiten, viele Interaktionen intuitiv und flüssig zu gestalten.

Und das ist etwas, das nicht nur bei analogem Spielen gebraucht wird, sondern bei jedweder Form von Interaktion, auch mit Landkarten, U-Bahn-Fahrplänen oder Gemälden. Schließlich geht es hierbei grundlegend darum, wie wir als Menschen mit der physischen Welt interagieren und Dingen, die wir sehen, Sinn geben. Beim Spielen machen wir das zwar nur am Tisch und in einem sehr kleinen, sehr überschaubaren Rahmen, aber genau darin liegt das Potenzial.

Beeindruckende Kniffe der Bildsprache analoger Spiele

Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz
Foto: Klemens Franz

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