Der Spieleautor Tobias Thulke war mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Wir haben mit ihm gesprochen – über Stimmen im Kopf, seine Spiele in der Zeitschrift des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener und Brettspiele rund um mentale Gesundheit.
Spiele über mentale Gesundheit
Ihr findet eine Übersicht über analoge Brettspiele und digitale Games rund um mentale Gesundheit am Ende des Interviews.
Tobias Thulke
Tobias Thulke wurde 1980 geboren. Nach seiner Ausbildung als Industriekaufmann studierte er BWL. In seiner Jugend spielte Thulke in mehreren Bands Bassgitarre. Er hörte 2003 damit auf und entwickelte ein Kartenspiel. Das war für Thulke der Schritt von der Gefühls- zur rationalen Welt. 2006 war Thulke erstmals in der Psychiatrie, seit 2017 hört er Stimmen in seinem Kopf. Inzwischen ist das Stimmenhören sein Spezialgebiet. Thulke engagiert sich im Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) und leitet die Anlaufstelle Rheinland des Landesverband Psychiatrieerfahrene NRW in Köln-Mülheim. In der spielbox erschien 2010 sein Spiel Schwere Schritte. Ebenfalls 2010 erschien sein Spiel Zeit der Zünfte als Beilage zur Spielerei.
Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE)
Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. ist eine gemeinnützige Selbsthilfeorganisation jetziger und ehemaliger Psychiatriepatientinnen und -patienten. Der Verein gibt Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts ab. Er organisiert Tagungen, Kongresse, Seminare und Selbsthilfetage und berät seine Mitglieder.
Einige Menschen trinken beim Spielen Wein oder Bier. Sie nicht. Warum?
Ich nehme Medikamente, die sich mit Alkohol nicht vertragen. Trotzdem würde ich gelegentlich ein einzelnes Feierabendbier trinken – wenn es dabei bleiben würde. Aber Alkohol ist ein guter Angstlöser. Würde ich einmal meine Gefühlswelt damit regulieren, würde ich immer wieder trinken.
Sie haben zwei Spiele in der Zeitschrift des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Wir, die Redaktion der Mitgliederzeitung, haben für eine Ausgabe noch einen Text gebraucht. Um die Seite zu füllen, habe ich eine Ausschreibung verfasst. Ich habe Menschen gesucht, die ein Spiel mitentwickeln wollten. Daraus entstand die Idee, immer im Dezember ein Spiel im Heft zu veröffentlichen. Dieses Jahr wird hoffentlich das dritte Spiel erscheinen. Wer sich an dem Projekt beteiligen möchte, kann sich gerne per Mail an mich wenden.
Wieso sind Sie im BPE aktiv?
Leider habe ich Psychiatrie-Erfahrung. Die ersten drei Aufenthalte waren positiv. Ich hatte das Gefühl, dass mir geholfen wird. Die folgenden drei waren schlimm. Das lag nicht daran, dass ich mich in einem psychiatriekritischen Verband engagiere. Mir ging es einfach schlecht und ich wurde auch so behandelt.
Ich setze mich im BPE dafür ein, dass es eine Alternative zur Psychiatrie gibt – ein von Betroffenen organisiertes Selbsthilfeangebot. Das müsste es flächendeckend geben. Ich halte es für schwierig, die Psychiatrie zu reformieren, auch wenn sich in der Psychiatrie über die Jahrzehnte viel verändert hat. Zwang und Gewalt sind allerdings geblieben.
Sie hören Stimmen. Was sagen sie Ihnen?
Es gibt ein grundsätzliches Prinzip: Geht es mir gut, ist es oft nur ein Nachplappern der Gedanken. Geht es mir nicht gut, entfernen sich die Stimmen von meinen Gedanken. Ich habe das Gefühl, dass sie dann ein Eigenleben führen. Die Stimmen sind über die Jahre deutlich leiser geworden – durch Selbsthilfe und wahrscheinlich auch Medikamente. Zu Beginn war es kaum zu ertragen, jetzt stören sie mich im Alltag eher selten.
Beeinflussen die Stimmen Ihre Arbeit als Spieleautor?
Für mich sind Stimmen keine Inspiration. Sie belasten und stören.
Viele digitale Games thematisieren mentale Krankheiten. Warum ist das bei analogen Brettspielen anders?
Wahrscheinlich passten solche Themen lange Zeit nicht in die heile Welt der Brettspiele. Ich glaube, dass sich das jedoch ändert, denn die Branche braucht neue Themen. Es wird langweilig, immer wieder ein Händler oder Baumeister zu sein. Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt, dass es ein immer breites Spektrum an Themen gibt.
Bei den wenigen Brettspielen zum Thema fällt auf, dass sie eine Therapie eher als lustiges Erlebnis darstellen, wie das Partyspiel Therapy. Oder, dass die Psychiatrie nur Kulisse ist, wie im Escape-Spiel Psychiatrie des Schreckens. Wie sollten Spiele Ihrer Meinung nach mentale Krankheiten thematisieren?
Den Themen Psychiatrie und Therapie kann man auch mit Humor begegnen. Ich halte es nicht für grundsätzlich falsch, ein Partyspiel wie Therapy zu entwickeln und zu veröffentlichen. Es sollte aber auch Spiele geben, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen. Daran mangelt es noch. Ich denke, dass es für die Anerkennung als Kulturgut dem Spiel gut tun würde, wenn auch schwierige Themen behandelt werden.
Ihre Spiele Das System und Wer sind wir? thematisieren psychische Erkrankungen, sind aber eher mechanisch und abstrakt. Wieso?
Ich denke immer in Mechanismen. Das kann ich nicht ablegen.
Zwei Spiele von Thulke erschienen in der Zeitschrift des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener. (Klicken zum Download)
Wenn es abstrakte Spiele sind, warum dann der Psychiatrie-Bezug?
Mal passt ein Thema besser zum Mechanismus, mal weniger. Ich wollte für das erste Spiel in der BPE-Zeitschrift einen klaren Bezug zur Psychiatrie haben. Meine Spiele dienen der Unterhaltung. Sie sollen aber auch zum Nachdenken anregen. Bei Das System kann man sich über das psychiatrische Angebot unterhalten – ohne das Wort System zu verwenden. Man kann nämlich der Meinung sein, dass es das System Psychiatrie nicht gibt, sondern lediglich verschiedene Einrichtungen im psychiatrischen Bereich.
Wieso der Untertitel „Halb so schlau, voll genau“?
Der Untertitel bezieht sich auf die Arbeitsweise in der Psychiatrie. Ich hatte zuerst die Idee für den Untertitel und habe dann überlegt, was der Spruch bedeuten kann. In der Psychiatrie wird professionell gearbeitet. Die menschlichen Aspekte kommen jedoch zu kurz. Der wissenschaftliche Anspruch der Psychiatrie greift nicht immer. Laut diesem können Psychosen durch Stoffwechselstörungen entstehen. Das ist meiner Meinung nach wissenschaftlich nicht bewiesen.
Was ist das Ziel des Spiels? Aus dem psychiatrischen System auszusteigen? Oder zu akzeptieren, dass man psychisch krank ist?
Genau um diese Entscheidung geht es thematisch. Psychiatrie-Erfahrene können selber entscheiden: Folgen sie dem Konzept der Psychiatrie? Oder den Überzeugungen, die der BPE vertritt? Für letzteren Fall gibt es die Bochumer Willenserklärung und die Patientenverfügung. Mit der Patientenverfügung wird psychiatrische Behandlung in jeglicher Form abgelehnt. Es darf keine Diagnose gestellt werden. Bei der Bochumer Willenserklärung geht es um die Nennung von Personen, die bevollmächtig werden und darum die psychiatrische Behandlung möglichst genau zu bestimmen. Hauptanliegen beider Erklärungen ist es, Zwangsbehandlungen zu vermeiden. Ich erwarte nicht, dass Menschen mir oder dem BPE blind vertrauen. Es gilt in allen Bereichen darum, kritisch mit anderen Meinungen umzugehen.
Haben Sie Ihre Spiele Verlagen angeboten?
Nein. Ich wollte die Spiele unbedingt ins Heft bringen. Wartezeiten bei Verlagen sind für weitgehend unbekannte Autorinnen und Autoren sehr lang. Das hätte nicht gepasst. Außerdem glaube ich nicht, dass ich einen Verlag gefunden hätte. Der Markt ist voll mit Spielen sowie Autorinnen und Autoren. Es ist schwierig geworden, da noch etwas zu platzieren.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Ich arbeite seit 2013 an meinem Spiele-Projekt Die Heiligen Quellen. Ich möchte es weiter voranbringen. Es geht mir darum, den Entwicklungsweg zu erklären und Möglichkeiten aufzuzeigen. Dazu kann man das Onlinespiel Drachenflüge, das eBook „Der Jahrmarkt“ und das eBook „Die gestohlene Karte“ ausprobieren. Die tollen Geschichten für die eBooks haben Buchautorinnen und -autoren geschrieben. Es macht Spaß, sie zu lesen und die spielerischen Elemente zu entdecken. Der Entwicklungsweg führt von der Brettspielidee zum Spiel im Buch und entfernt sich schließlich mit dem Schritt zum Onlinespiel von der Zielgruppe Brettspielfans. Es bleibt aber ein Spiel mit Brettspielmechanismen.
25 Brettspiele und Games über psychische Erkrankungen, Depressionen und mentale Gesundheit
Es gibt einige, digitale Games und analoge Brettspiele rund um psychische Erkrankungen beziehungsweise mentale Gesundheit. Hier eine Auswahl in alphabetischer Reihenfolge, 🎲 steht für ein Brettspiel, 🎮 für ein Game.
🎲 Berge des Wahnsinns – Das kooperative Brettspiele basiert auf der Horror-Geschichte Berge des Wahnsinns von H. P. Lovecraft und handelt von einer Expedition in die Antarktis, bei dem die Teilnehmer nach und nach wahnsinnig werden.
🎮 Celeste – In dem Jump-’n‘-Run Celeste will Protagonistin Madeline einen Berg erklimmen. Auf dem Weg muss sie immer wieder ihren Selbstzweifeln stellen. Sie leidet unter Angststörungen und Selbstzweifeln. Das Spiel stellt das mit einer dunklen Spiegelversion von Madeline dar.
🎮 Child of Light – Das Jump-’n’-Run-Rollenspiel, handelt von Trauer und Depression, dargestellt durch den märchentypischen tiefen Schlaf, in den die Prinzessin nach dem Tod ihrer Mutter fällt. In einer Art Traumwelt muss das Mädchen lernen, an sich selbst zu glauben und mit ihrer Trauer umzugehen.
🎮 Depressions Quest – In dem Spiel schlüpfen wir in die Rolle einer Person, die an Depressionen leidet. Wir werden mit einer Reihe alltäglicher Ereignisse konfrontiert und müssen versuchen, mit der Krankheit, Beziehungen, ihrer Arbeit und einer möglichen Behandlung zurechtzukommen.
🎮 Dementium – Die Anstalt – Der Survival-Horror-Ego-Shooter spielt in einem Krankenhaus. Der Hauptcharakter William Redmoor wacht nach einem Alptraum in seinem Krankenzimmer auf. Er erinnert sich weder daran, wer er ist, noch daran, wie er in das Zimmer gekommen ist.
🎮 Edna bricht aus – In dem Point-and-Click-Adventure wacht die Protagonistin Edna ohne jede Erinnerung in der Gummizelle einer Nervenheilanstalt auf. Wie ist sie hierher gekommen? Sie hat nicht die leiseste Ahnung, doch eines ist ihrer Meinung nach sicher: Sie wird zu unrecht festgehalten und muss ausbrechen.
🎮 Fractured Minds – Spielerinnen und Spieler übernehmen die Kontrolle über einen namenlosen Protagonisten und kämpfen sich durch sechs düstere, atmosphärische Kapitel. Jedes Kapitel bietet eine andere Herausforderung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen wie Isolation, Paranoia und Angstzuständen.
🎮 Gris – Gris ist ein Mädchen, das eine schmerzhafte Erfahrung verarbeitet und in ihrer eigenen Welt verloren ist. Im Laufe des Jump-’n’-Runs- und Action-Adventures lernt Gris auf eine neue Art und Weise auf die Welt zu blicken.
🎮 Hellblade: Senua’s Sacrifice – Basierend auf der keltisch-nordischen Mythologie erzählt das Spiel die Geschichte der jungen keltischen Kriegerin Senua. Bemerkenswert ist, dass vor allem ihre Psychosen im Mittelpunkt stehen und spielerisch zum Ausdruck gebracht werden.
🎮 Just, Bearly – Auch bei der Minispiele-Sammlung geht es um Ängste, allerdings stehen hier soziale Ängste im Vordergrund. In dem Spiel begleiten wir einen Bären durch eigentlich alltägliche Situationen, die für ihn aber ziemlich beängstigend sind.
🎲 Lobotomy – Jeder Person am Tisch übernimmt in dem Adventure beziehungsweise Dungeon Crawler die Rolle eines anderen Charakters mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Phobien. Alle wollen gemeinsam aus der Psychiatrie entkommen. Aber das ist nicht so einfach, denn die Angestellten sind Monster.
🎮 Nights in die Woods – Das Adventure Game handelt von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Die Hauptfigur Mae fühlt sich ziellos und entfremdet von ihren alten Freunden, die alle mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen haben.
🎲 Off your Rocker -In dem Partyspiel wählen wir eine Störung aus, die wir darstellen. Die Psychiaterin beziehungsweise der Psychiater versucht, die Störung zu erraten, indem er Fragen stellt und nach Mustern in den Antworten sucht.
🎲 Psycho Pet – Die Spielerinnen und Spieler heilen in dem Brettspiel kleine und große Psychosen von Tieren in einer Klinik. Damit ihnen das gelingt, sammeln sie Karten.
🎲 Psychiatrie des Schreckens – Das Escape-Game erzählt die Geschichte einer Nacht in der psychiatrischen Klinik von North Oaks. Die Spielerinnen und Spieler erleben aus Sicht von fünf verschiedenen Charakteren in fünf separaten Handlungssträngen die Flucht aus dem Gemäuer.
🎮 Sanitarium – Der Wahnsinn ist in Dir – In dem Point-and-Click-Adventure spielen wir einen Mann ohne Gedächtnis. Nach einem Autounfall wachen wir auf und entdecken, dass wir uns nicht in einem Krankenhaus befinden, sondern in einer Nervenheilanstalt. Wir müssen herausfinden, was passiert ist.
🎮 Sea of Solitude – Wir steuern in dem Adventure eine junge Frau namens Kay, die so sehr unter Einsamkeit leidet, dass ihre inneren Gefühle von Hoffnungslosigkeit, Wut und Wertlosigkeit nach außen dringen und sie in ein Monster verwandeln. Um herauszufinden, warum Kay sich in ein Monster verwandelt hat, erkunden wir eine scheinbar leere, überflutete Stadt.
🎮 Silent Hill – Shattered Memories – Bei Start des Action-Adventures im Survival-Horror-Genre sind wir in der Praxis eines Psychotherapeuten, in der wir einen psychologischen Test absolvieren müssen. Anschließend wechselt das Szenario in das nebelverhangene Silent Hill. Bei Schlüsselmomenten kehren wir immer wieder in die Praxis zurück. Die Erlebnisse des Protagonisten finden also nicht in der Gegenwart statt, sondern werden in einer therapeutischen Sitzung rekapituliert.
🎮 The Evil Within – Das Survival-Action-Horrorspiel lehnt sich an die Resident Evil-Reihe an. Die Spielerinnen und Spieler schlüpfen in die Rolle von Detective Sebastian Castellanos, der zusammen mit seinen Partnern Joseph Oda und Julie Kidman zu einem Tatort gerufen wird, an dem sich mehrere Morde im Beacon Mental Hospital ereignet haben.
🎲 Therapie – Jetzt oder nie – Bei dem Gesellschaftsspiel sind alle Personen am Tisch Therapeutinnen oder Therapeuten und haben nur ein Ziel. Sie wollen ihren Patienten möglichst viel Geld aus der Tasche ziehen.
🎲 Therapy – Beim Partyspiel Therapy rücken die Spielerinnen und Spieler abwechselnd Felder vor, um dann in sechs verschiedenen Bereichen Fragen zu beantworten oder die anderen Personen am Tisch psychologisch einzuschätzen.
🎮 The Impatient – Das Survival-Horror-Spiel wird aus der Ego-Perspektive gespielt wird. Wir übernehmen die Rolle eines Patienten, der nach einem Minenunglück im Blackwood Sanatorium im Jahr 1952 an Amnesie leidet und versucht, sein Gedächtnis wiederzuerlangen.
🎮 The Town of Light – Das Adventure spielt im real existierenden Ospedale Psichiatrico di Volterra, einer 1887 gegründeten psychiatrischen Klinik in Volterra bei Florenz. Die Handlung ist fiktiv, basiert aber auf wahren Begebenheiten. Wir schlüpfen in die Rolle der 16-jährigen Renée, die 1938 in die Anstalt eingewiesen wurde und im Spiel in das verfallene Gebäude zurückkehrt, um ihre Erinnerungen an den Ort wiederzufinden.
🎮The White Door – Das Puzzle Game erzählt die Geschichte von Robert Hill, der in einer psychiatrischen Anstalt aufwacht und sein Gedächtnis verloren hat. Wir wollen das Geheimnis der Hauptfigur lüften und ihm helfen, sein Gedächtnis wiederzuerlangen.
🎲 T.I.M.E. Stories– Als Agent der T.I.M.E Agency reisen Spielerinnen und Spieler in dem Brettspiel in die Vergangenheit, um das Universum und seine Parallelwelten davor zu schützen, aus den Fugen zu geraten. In der ersten Mission verschlägt es sie in eine Nervenheilanstalt.
In der Spieleliste fehlt unbedingt Death may Die.