Auch in der Steinzeit, der Antike und im Mittelalter wurde gespielt. Nach welchen Regeln, wissen wir nicht immer. Das hat gleich mehrere Gründe.
Dieser Beitrag stammt aus „Null Ouvert – Magazin für analoge Spielkultur“. Mehr Informationen zu dem Heft findet ihr in diesem Beitrag.
Nehmen wir einmal an, in ferner Zukunft würden Archäologinnen und Archäologen ein vollständiges Mensch ärgere Dich nicht ausgraben, mitsamt Würfel und allen Spielsteinen, nur leider fehlte die Spielregel. Wäre es möglich, diese anhand des Materials zu rekonstruieren? Die Antwort ist nein, oder zumindest nicht vollständig. Man wird anhand der Zeichen auf dem Spielbrett sicher ermitteln können, dass es sich um ein Wettlaufspiel für vier Spieler handelte, das im Uhrzeigersinn gespielt wurde. Man würde mit guten Gründen annehmen, dass das Ziel wahrscheinlich war, einmal den Parcours zu durchlaufen und die gleichfarbigenkleinen Felder a-b-c-d zu besetzen, aber ob mit allen vier Steinen oder nur mit einem, bliebe offen.
Teufel steckt im Regeldetail
Spiele unterscheiden sich vor allem im Hinblick auf Kleinigkeiten. Der Teufel steckt im Detail. Eine der Fragen, die sich stellt, ist: Was geschieht, wenn ich mit einem Würfelwurf auf ein Feld ziehen könnte, das schon von einem anderen Stein besetzt ist? Um darauf eine Antwort zu geben, würden die Forscherinnen und Forscher
sich in der Spielgeschichte umsehen, um Analogien zu finden, das heißt Spiele, die nach ähnlichen Mustern ablaufen. Und da würden sie verschiedenste Lösungen finden. Hier eine Auswahl.
- Auf ein besetztes Feld kann man nicht ziehen. Man muss also einen anderen Stein ziehen.
- Die beiden Steine tauschen die Plätze.
- Besetzte Felder werden beim Ziehen nicht mitgezählt, sodass man auf dem Feld dahinter ankommt.
- Es dürfen mehrere Steine auf einem Feld stehen; wobei man noch unterscheiden könnte, ob es sich um einen eigenen oder einen fremden Stein handelt und wie viele Steine genau das sein können.
- Der Stein auf dem Feld wird geschlagen, indem ich meinen Stein an seine Stelle setze, so wie es bei Mensch ärgere Dich nicht der Fall ist. Wobei sich die Anschlussfrage stellt, ob der Stein ein für alle Mal ausscheidet oder wieder ins Spiel gebracht werden darf und, wenn ja, wie.
Es gibt keine Möglichkeit, wenn nicht andere Quellen Auskunft geben, zu entscheiden, welche Regel auf dieses Spiel zutraf. Wir wissen aber alle, dass der Reiz des Spiels genau in diesem Regeldetail steckt.
Lückenhafte Beschreibung nicht nur bei Alquerque
Eine Methode, Spielregelrekonstruktionen zu überprüfen, ist immerhin, das Spiel konkret zu spielen: Eine Regel, die zu einem unspielbaren Spiel führt, kann nicht stimmen. So hat Florian Heimann, damals Gymnasiast der Oberstufe, vor wenigen Jahren festgestellt, dass die vermeintliche römische Rundmühle, deren Spiel-
regel Carl Blümlein in seinem Buch „Bilder aus dem römisch-germanischen Kulturleben“ 1918 vorgeschlagen hatte, schlichtweg zu einer Endlosschleife führt. Das Spiel, das manchen als das beliebteste römische Brettspiel gilt, kann es so also nicht gegeben haben. Die vielen Radmuster, die in römischen Städten in die Marmorfußböden eingeritzt sind, müssen eine andere Funktion gehabt haben. Ob diese Erkenntnis die archäologischen Museen dazu veranlassen wird, das Spiel aus ihrem museumspädagogischen Programm und aus dem Museumsshop zu verbannen, bleibt freilich ab zuwarten
Ein Problem ist also die Unvollständigkeit, ja manchmal auch Widersprüchlichkeit der Überlieferung. Auch kann man an der Kompetenz der Autoren, über Spiele zu sprechen, durchaus zweifeln, vor allem, wenn sie zeitlich weit von ihrem eigentlichen Gegenstand entfernt sind. In keiner einzigen Schriftquelle aus dem antiken
Griechenland oder Rom ging es dem Autor darum, die Spielregel eines Brettspiels genau zu beschreiben.
Der Autor des Lobgedichts auf Piso (Laus Pisonis) etwa möchte anhand einer Latrunculi-Partie die besonderen strategischen Fähigkeiten Pisos als Feldherr herausstreichen. Und im zweiten Jahrhundert beschreibt Pollux
in seinem Lexikon das griechische Linienspiel gerade so genau wie nötig, um Herkunft und Bedeutung des Sprichworts „seinen Stein von der Heiligen Linie ziehen“ zu erläutern. Selbst da, wo sie genau sein wollen, sind historische Spielregelbeschreibungen nach unseren Maßstäben lückenhaft. So beschreibt Alfons X.
von Kastilien und León in seinem Spielebuch von 1284 das Alquerque-Spiel, den Vorläufer des Damespiels. Die Steine schlagen gegnerische Steine durch Überspringen. Er sagt aber leider nicht, ob die Steine nur vorwärts ziehen dürfen oder auch zurück. Denn dadurch stellt sich die Frage, was mit einem Spielstein passiert, der
am anderen Ende des Brettes angekommen ist. Die Frage ist nicht einfach zu beantworten.
Alquerque war im Mittelalter in Europa sehr beliebt. Aber wurde es schon nach den gleichen Regeln wie Dame gespielt oder ist diese eine Weiterentwicklung? Die Ansichten darüber gehen auseinander. Und die mittelalterlichen Sammlungen von Wettaufgaben für Schach, Backgammon-Spiele und Mühle setzen die
Kenntnis der Spielregeln einfach voraus.
Ein Spiel, viele Varianten
Ganz grundsätzlich stellt sich aber bei dem Versuch, verlorene Spielregeln historischer Spiele zu rekonstruieren, folgendes Problem: Eigentlich nämlich existieren traditionelle Spiele nur in Varianten. Die eine Spielregel gibt
es nicht. Schon im Mittelalter beschreibt König Alfons X. nicht weniger als 15 verschiedene Spiele der Backgammon-Familie. Und auch heute noch lässt sich beobachten, wie verschieden die Hausregeln sind, nach denen Familien Mau-Mau, Rommé oder sogar Monopoly, für das es offizielle Spielregeln gibt, spielen. Und wenn wir über ägyptische, griechische oder römische Spiele sprechen, dann betrifft das Spiele, die jahrhundertelang gespielt wurden, und das in geografisch riesigen Räumen. Es ist kaum anzunehmen, dass das römische Latrunculi-Spiel im ersten Jahrhundert vor Christus in Rom nach genau den gleichen Regeln gespielt wurde wie zweihundert Jahre später, sagen wir, in Ephesos. Ja, möglicherweise unterschieden sich
die Regeln von einer Legion zur anderen, von Dorf zu Dorf, von Familie zu Familie.
Einheitliche Spielregeln, das lehrt etwa die moderne Geschichte des Schachs oder des Fußballs, werden erst benötigt, wenn man überregionale Wettkämpfe austragen möchte. Aber von All-Roman-Championships im Ludus Latrunculorum berichten die Quellen leider nicht. Über dieses Spiel ist einiges bekannt, zum Beispiel wie das Spielbrett aussah und wie der Schlagmechanismus war. Es gibt mehrere mehr oder weniger informative Aussagen über das Spiel in der römischen Literatur, aber keine dieser Quellen hatte die Absicht, eine genaue Beschreibung der Spielregeln zu geben, einfach weil Varro, Ovid, Martial und andere Autoren davon ausgingen, dass ihre Leser das Spiel kannten. Uns Heutigen bleibt nur übrig, aus den verstreuten Angaben ein einigermaßen aussagekräftiges Bild über den Charakter des Spiels zu zeichnen. Natürlich kann man auch eine vollständige Spielregel vorschlagen, allerdings darf man nicht beanspruchen, die antike Spielregel damit gefunden zu haben.
Antike trifft Computer
In diesem Sinne haben wir im Rahmen des vom European Research Council geförderten, von Véronique Dasen geleiteten, Forschungsprojekts „Locus Ludi“ Vorschläge für vier antike Spiele gemacht, die man am Computer spielen kann. Um solchen Fragen nachzugehen, haben Cameron Browne und seine Mitarbeiter in einem umfangreichen Forschungsprojekt in zwischen tausend traditionelle Spiele programmiert. Sie haben sogenannte Ludeme definiert. Das sind Spielregelmodule, die man theoretisch beliebig zusammensetzen kann. Auf diese Weise lassen sich Spielregelvarianten beziehungsweise Rekonstruktionsvorschläge auf ihre Funktionsfähigkeit überprüfen und vielleicht sogar Stammbäume erstellen



