Games vs. Brettspiele: Mehr Gemeinsamkeiten statt Unterschiede

Terra Mystica als App.

Welche Gemeinsamkeiten haben Games und Brettspiele? Laut Harald Schrapers, Vorsitzender der Jury Spiel des Jahres, „hat das eine mit dem anderen kaum etwas zu tun“. Jakob Richter sieht das anders. Ein Gastbeitrag.


Hinweis zur Wortahl
Wir verwenden in diesem Artikel zur Besseren Lesbarkeit das Wort Games als Synonym für digitale Spiele. Das Wort Brettspiele steht für alle analogen Gesellschaftsspiele, also auch für Karten- und Würfelspiele. Für den Autor des Artikels sind sowohl Games als auch Brettspiele Spiele und dieses “Spiel sein” ist fast gänzlich unabhängig vom Rezeptionsmedium.

Alles verspielt?
In der Zeitschrift Null Ouvert erschien 2021 ein Artikel von Jens Junge (Institut für Ludologie). Junge hatte darin, verkürzt formuliert ziemlich allen Akteuren der deutschen Brettspielbranche chronische Schlafmützigkeit und Unprofessionalität vorgeworfen. Die spielbox hat das Thema aufgegriffen und in der Ausgabe 5/2022 Harald Schrapers (Spiel des Jahres), Hermann Hutter (Spieleverlage) und Junge interviewt. Unter anderem ging es in dem Interview auch um das Verhältnis zwischen Brettspielen und Games. Hier ein Auszug, der wichtig ist, um den folgenden Artikel einzuordnen. Das komplette Interview findet ihr im gedruckten Magazin.

Asmodee wurde von Embracer gekauft, einem großen Unterhaltungskonzern, der vor allem mit Videospielen Geld verdient. Deren Management sieht in Brettspielen also Potenzial. Wäre es da nicht doch eine gute Idee, sich mit dem Gamesverband zusammenzutun, um von deren Power zu profitieren?
Hutter: Ich bin kein Freund davon, denn jeder hat seinen eigenen Markt. […] Brettspiele haben etwas Besonderes. Dieses Besondere ist, dass sie nicht digital sind. […]
Jüngere Spielergenerationen unterscheiden nicht zwischen analogem und digitalem Spiel, sie spielen medienübergreifend. Warum also formal die Trennung so betonen?
Schrapers: Auch wenn es Spiel heißt, hat das eine mit dem anderen kaum etwas zu tun. Wer an der Bushaltestelle auf dem Handy daddelt, geht in meinen Augen einer völlig anderen Beschäftigung nach. Beachvolleyball ist auch ein Spiel. Trotzdem tue ich mich mit denen nicht zusammen. Brettspiele sind etwas Eigenständiges. Ich glaube nicht, dass wir bei einem Zusammenschluss mit der Gamesbranche gewinnen.
Der Punkt ist doch: Spielen ist etwas Selbstverständliches unter jungen Erwachsenen geworden, auch durch digitale Spiele.
[…] Junge: Die Spielsituation am Tisch ist etwas ganz anderes, als vor dem Bildschirm zu sitzen. Diese Situation wird ganz explizit gesucht: Ich möchte eben nichts mit dem Display zu tun haben, ich möchte nicht digital sein, ich möchte den Angstschweiß meines Gegners, seine Gestik, Mimik erleben. Aber trotzdem wächst die Industrie – das Stichwort Embracer ist bereits gefallen – meiner Beobachtung nach zusammen. […] Es gibt genügend Schnittstellen und Möglichkeiten, und darauf zielte mein Impuls ab: dass die Brettspielbranche sich nicht nur in ihrer eigenen Ecke wohlfühlen, sondern auch das Gespräch suchen sollte.

Neulich lag die spielbox 5/2022 im Briefkasten. Darin wurden Harald Hutter, Jens Junge und Harald Schrapers interviewt (siehe Kasten). Schrapers sagte bemerkenswerte Sätze zum Verhältnis von digitalen Games zu analogen Brettspielen: „Auch wenn es Spiel heißt, hat das eine mit dem anderen kaum etwas zu tun. Wer an der Bushaltestelle auf dem Handy daddelt, geht in meinen Augen einer völlig anderen Beschäftigung nach [als Brettspiele zu spielen].“ Ich nehme nicht an, dass diese zwei Sätze ein Verdikt gegen das Spielen an Bushaltestellen sind. Vielmehr behauptet Schrapers, dass „am Handy spielen“ mit „einem Brettspielen spielen“ praktisch nichts zu tun hätte und eine „völlig andere Beschäftigung“ sei.

Macht das Medium wirklich einen großen Unterschied? Wenn, ja, was hieße das für die gesellschaftliche Bedeutung von Brettspielen?

Einsam und gemeinsam spielen

Ich fahre regelmäßig mit der S-Bahn zur Arbeit. Wie Millionen andere Menschen spiele ich dabei auf dem Handy. Ich daddele vor mich hin. Es macht mir Spaß, so zu spielen. Auf den Bildschirm kommen dabei fast nur Adaptionen von Brettspielen – zum Beispiel Andor, Terraforming Mars oder Through the Ages. All diese Spiele stehen in meinem Regal auch in analoger Form. Fast immer spiele ich gegen den Computer.

Trotzdem gilt: Der Unterschied zwischen Games und Brettspielen kann kaum darin liegen, dass analoge Spiele meist in Gruppen gespielt werden. Man kann Games auch am Handy gegen Menschen spielen. Es kommt nur darauf an, dass man sich zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten verabredet, analog einer Verabredung zum Brettspielabend. Mit anderen online zu spielen, geht auch an Bushaltestellen, mit analogen Brettspielen wird das schwer.

Bei dem Argument schwingt oft mit, dass analoge Spiele als Gruppenaktivität per se sozial wertvoller seien als Games. Es gibt aber Games, die in großen Gruppen gespielt werden. Umgekehrt sind Solitärvarianten ein Verkaufsargument für Brettspiele. Einige Menschen schätzen es so sehr solitär zu spielen, dass es sich für Verlage lohnt, spezielle Regeln zu entwicklen und einem Brettspiel Solitärmaterial beizulegen. Solitär zu spielen ist ein Verkaufsargument – beim analogen Spiel ebenso wie beim digitalen. Unter diesem Aspekt, ist das Spielen in beiden Medien eine ähnliche Beschäftigung.

Es gibt zwischen Games und Brettspielen fließende Übergänge: vom traditionellen Spiel am Tisch ohne jede digitale Unterstützung bis hin zum voll digitalen Spiel auf dem Handy. Die Medien sind unterschiedlich, so wie man einen Film im Kino oder auf dem Handy sehen kann, einen Text im Buch oder auf dem Tablet lesen kann. Eine klar zu erkennende spielerische, soziale und oder technische definierte Bruchlinie zwischen dem analogen und dem Computer- oder Handygame, ist nicht vorhanden. Es spricht rein technisch wenig dafür, dass am „Handy daddeln“ mit „analog spielen“ eine völlig andere Betätigung ist.

Grafik: game - Verband der deutschen Games-Branche
Grafik: game – Verband der deutschen Games-Branche

Games vs. Brettspiele: Wer profitiert von scharfer Abgrenzung?

Im Interview spielt es eine Rolle, ob sich die analoge Spielebranche in ihrer Lobbyarbeit der Gamesbranche annähern sollte. Das ist eine Spezialdiskussion der Branche. Scharpers geht mit seiner Abgrenzung aber weiter. Er argumentiert nicht für oder gegen bestimmte Organisationsformen. Er argumentiert mehr oder weniger für die Abgrenzung von allen Beschäftigung mit analogen Brettspielen zu digitalen Games. Wem nützt eine solch scharfe Trennung? Spielerinnen und Spielern, Kundinnen und Kunden nicht.

Tatsächlich sind analoge Brettspiele und digitale Games angenehme Freizeitbeschäftigungen. Brettspiele und Games befruchten sich in vielfältiger, kreativer Weise gegenseitig. Sie erweitern direkt oder indirekt das jeweilige Spielerlebnis, steigern die Immersion und das soziale Verständnis. Man kann sie jeweils gemeinsam oder solitär spielen, online oder face to face.

Umgekehrt stehen, je schärfer die Abgrenzung gegeneinander ist, umso weniger spielerische Möglichkeiten stehen zur Verfügung. Je näher sich Regeln und Inhalt von Games und Brettspielen sind, desto weniger Unterschiede zwischen den Medien erkennen Spielerinnen und Spieler. Klar, es kann mehr oder weniger Spaß machen, ein Spiel am Tisch oder am Handy zu spielen. Das kann nach Stimmung, Spiel und Gelegenheit variieren. Einen verallgemeinerbaren Maßstab dafür, ob besser und lieber am Tisch oder am Bildschirm gespielt wird, gibt es meines Erachtens aber nicht.

Eine scharfe Abgrenzung der Medien nützt auch nicht den Autorinnen und Autoren. Ihr kreativer Prozess wird nicht dadurch befördert, dass sie sich per se technische, spielerische oder soziale Grenzen setzen. Natürlich wird der kreative Prozess zu irgendeinem Zeitpunkt der Spieleentwicklung in engere Bahnen gelenkt. Es mag auch sein, dass Autorinnen und Autoren dies implizit sofort tun, der erste Schritt ist aber immer „Ich will ein Spiel entwickeln“. Dann folgen die entwicklerischen Entscheidungen, die auch das Medium betreffen können.

Es gibt diverse Plattformen mit exzellenten Versionen von analogen Brettspielen. Teilweise erleichtern diese das Spielen erheblich. Sie verwalten Material sowie überwachen und erklären Regeln. Mitspielerinnen und Mitspieler können sich per Video hören und sehen. Manchmal kann man sogar mit Menschen und Computergegnern spielen. Bei diversen analogen Brettspielen gibt es digitale Anteile, ohne die das analoge Spiel nicht funktionieren würde, zum Beispiel bei Detective oder Soviet Kitchen. Es gibt analoge Brettspiele, die Games als Vorbild habe, zum Beispiel This war of Mine. Umgekehrt gibt es Games, die sich von analogen Spielen inspirieren lassen, zum Beispiel Civilisation.

Es gibt natürlich entwicklerische Überlegungen: Wer epische „Hack and Slay“ designen will, orientiert sich vielleicht an Gloomhaven oder World of Warcraft. Klar ist: Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten der analogen Brettspielentwicklung erheblich erweitert. Bei Soviet Kitchen bestehen Gerichte aus mehreren farbigen Komponenten. Wir versuchen durch das Mischen von farbigen Zutaten exakt die Farben des bestellten Gerichts zu treffen. Dabei hilft uns eine App. Die Farbe eines Gerichtes vergleichend abzuschätzen, dürfte angesichts der exponentiellen Anzahl an Kombinationen ohne Handy kaum möglich sein.

Soviet Kitchen. Foto: Wizzy Parkerir
Bei diversen analogen Brettspielen gibt es digitale Anteile, ohne die das analoge Spiel nicht funktionieren würde, zum Beispiel bei Soviet Kitchen. Foto: Wizzy Parkerir

Vorteile durch crossmediale Vermarktung

Die crossmediale Vermarktung eines Brettspiels im Computerbereich wird zudem aus finanziellen Gründen im Sinne von Autorinnen und Autoren sein. Die Beschäftigung am Spieltisch oder am Handy möglichst nahe aneinander zu rücken, dürfte also aus vielen Gründen im Sinne von Autorinnen und Autoren sein.

Tatsächlich eröffnet die Möglichkeit zur corssmedialen Vermarktung Verlagen wirtschaftliche Möglichkeiten, die sie auch nutzen. Spielerinnen und Spieler, die Andor am Handy und am Tisch spielen, bezahlen zweimal für dasselbe Spiel. Es ist anzunehmen, dass das Brettspielverlagen recht ist. Ob Spielerinnen und Spieler, die ein Spiel am Computer kennenlernen, es deshalb nicht am Tisch spielen, ist nicht ausgemacht. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass es SpielerInnen gibt, die vom Computer- zum Brettspiel kommen. Verlage sollten also ein klares wirtschaftliches Interesse daran haben, dass zwischen der Beschäftigung am Handy und am Tisch möglichst wenig Schranken aufgebaut werden.

Hochmut eines passionierten Brettspielaficionados?

Die Behauptung, dass wer an der Haltestelle auf dem Handy daddelt, einer völlig anderen Beschäftigung nachgehe als ein Brettspiel zu spielen, erinnert ein wenig an die vor Jahren getätigte Behauptung der Zeitungsverlage, dass das Lesen einer Webseite eine völlig andere Beschäftigung sei, als das Lesen einer Zeitung. Genützt hat es der Zeitungsbranche nichts. Klassische Zeitungsverlage gibt es praktisch nicht mehr. Es gibt Medienhäuser. Es gibt übrigens auch keine relevanten rein analogen Journalistenpreise mehr.

Mich beschleicht das Gefühl, dass Harald Schrapers mit seiner Behauptung die Deutungshoheit über die richtige Art der Beschäftigung von Spielerinnen und Spielern mit analogen Brettspiele haben möchte. Die Erklärung das zwar beides spielen genannt werde, dass daddeln am Handy mit dem Brettspiel aber wenig zu tun habe, schürt zu mindest den Verdacht, dass der passionierte Brettspielaficionado mit einem gewissen Hochmut auf den unengagierten Handydaddler blickt. Als wenn Terraforming Mars in der Gruppe am Tisch gespielt, der richtige Umgang mit Spielen ist, Terraforming Mars solitär an der Bushaltestelle auf dem Handy aber der falsche Umgang mit Spielen ist. Sinn ergibt das nicht. Es gibt kein falsches daddeln am Handy im Verhältnis zum echten spielen am Brett.

Es wäre wesentlich wirkungsmächtiger darauf hinzuweisen, dass der kreative Kern vieler Handygames analoge Brettspiele sind. Man kann Stolz darauf sein, dass das analoge Kennerspiel des Jahres 2013, Andor, auch auf dem Handy ein Erfolg ist. Beide Arten Andor zu spielen, beziehen sich aufeinander über den kreativen inhaltlichen und regeltechnischen Kern des Spiels. Denkbar wäre ja immerhin, seitens der Jury Spiel des Jahres auch auf gelungene digitale Umsetzungen von Brettspielen hinzuweisen oder sie sogar zu prämieren.

Wenn Gloomhaven in Serien, Apps, Filmen, YouTube, Lego, Twitter, Printprodukte, Miniaturen und alle anderen denkbaren Arten vom Merchandising ein so starkes Narrativ entwickeln würde, wie Star Wars, wäre das zu begrüßen. Menschen beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit Handys. Die Brettspielbranche muss damit umgehen. Ziel sollte sein, über die crossmediale Verbreitung (brett-) spielerischer Inhalte, die gesellschaftliche Bedeutung des Brettspiels zu steigern. Hier öffentlichkeitswirksam anzusetzen, könnte eine wichtige Rolle der Jury Spiel des Jahres sein.

Wer in der S-Bahn solitär Terra Mystica spielt, spielt die Computerversion eines Brettspiels. Wer am Tisch gemeinsam This war of Mine spielt, spielt die Brettspielversion eines Computergames. Eine komplett andere Beschäftigung ist das nicht. Die Verknüpfung der medialen Plattformen ist thematisch, regeltechnisch und nicht zuletzt über die spielerische Immersion gegeben. Um die gesellschaftliche Bedeutung des Brettspiels zu steigern, ist es eher schädlich, eine scharfe Abgrenzung der unterschiedlichen Plattformen zu propagieren. Das wäre ein von vorne herein verlorener Kampf um die Deutungshoheit, was ein echtes Brettspiel sei. Der Versuch die Plattformen scharf gegeneinander abzusetzen, trifft auch nicht den kreativen Kern von Brettspielen: Es sind in erster Linie Inhalt und deren regeltechnische Umsetzung, nicht die Plattform, die die Menschen zum Spielen bringen und so dem Brettspiel zu mehr gesellschaftlicher Bedeutung verhelfen.

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