In Vietnam sind moderne Autorenspiele nahezu unbekannt. Boardgames Viet (BGV) will das ändern. Das Unternehmen ist Händler, Verlag und Turnierveranstalter in einem. Die Inhaber leisten in dem kommunistischen Land verspielte Pionierarbeit.
Hinweis: Der Artikel erschien erstmals 2015 in der spielbox.
Ho Chi Thao City im Herbst 2015. Es regnet. Motorräder knattern über Straßen und schleichen über Bürgersteige. Mopeds rollen aus allen Ecken. Motorroller schwärmen in alle Himmelsrichtungen. Viele Fahrer tragen Mundschutz, fast alle ignorieren Ampeln. Sie hupen beim Abbiegen, Überholen und vor Straßenkreuzungen – also ständig. Fußgänger schlängeln sich durch den Verkehr. Es herrscht das ganz normale Chaos einer vietnamesischen Großstadt. Jeder ist unterwegs. Jeder hat ein Ziel vor Augen. Auch im übertragenen Sinne. Seit 1986 gilt in dem Land Đổi mới, eine Politik der Erneuerung. Die Kommunistische Partei Vietnams, die KPV, setzt seitdem auf eine wirtschaftsliberale Politik. Seit Đổi mới investieren verstärkt ausländische Firmen in dem Land und immer mehr Vietnamesen gründen eigene Unternehmen. So wie Frau Ho Phuong Thao und Herr Truong Quang Minh. Die Zwei verkaufen ein für viele Vietnamesen unbekanntes Produkt: Brettspiele. Um Kunden zu gewinnen, investieren sie deshalb viel Zeit in Aufbauarbeit – immer dabei ist das Moped.
Nachwuchsautoren gesucht
Im zehnten Distrikt von Ho Chi Thao City liegt die Hong Linh Street, etwas entfernt vom Zentrum. Hier versteckt sich das BGV-Hauptquartier in einem Gebäude mit mehreren Büros. Am Tor hängt zwar ein weißes Schild mit dem bunten BGV-Logo, ausländische Besucher müssen sich trotzdem durchfragen, weitere Wegweiser oder Hinweisschilder fehlen. Mit etwas Ausdauer finden die Besucher einen kleinen Laden im ersten Stock des Gebäudes. Der Raum ist BGV-Zentrale und Spielefachgeschäft in einem. An einem Regal baumelt der Motorradhelm von Thao. Auf dem Schreibtisch liegen Bücher und ein Zauberwürfel, Verpackungen, Klebeband sowie ein schwarzer Laptop. Damit leitet Thao ihr Unternehmen, das sie 2012 zusammen mit Minh gegründet hat. Während der 23-Jährige Minh noch immer bei einer Import- und Exportfirma angestellt ist, arbeitet die 24-Jährige Thao inzwischen in Vollzeit für BGV. Früher machte sie bei Vietnam Television Corporation Online-Marketing für Mobilspiele, jetzt verkauft sie analoge Brettspiele. Thao ist rund um die Uhr im Einsatz. Trotzdem sagt sie: „Spielen ist meine große Leidenschaft. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich arbeite.“ Auf ihrem Laptop schreibt sie E-Mails an Geschäftspartner, kontrolliert ihr Budget und informiert Interessierte auf Facebook sowie in einem Blog über verspielte Neuigkeiten aus Vietnam und dem Rest der Welt.
Büro ist gleichzeitig Verkaufsraum
Kunden, die den Raum betreten, ignorieren den Schreibtisch mit dem Laptop. Sie interessieren sich eher für die zwei Holzregale neben dem Schreibtisch. Darin stehen Spiele mit englischen und chinesischen Titeln. Komplexere Kennerspiele wie Agricola, Auf den Spuren von Marco Polo oder Terra Mystica suchen Kunden vergebens. Im Angebot sind Familien- und Partyspiele. Besonders beliebt sind Die Werwölfe von Düsterwald, Mascarade und Legends of the Three Kingdoms. „Ein Spiel muss mehrere Kriterien erfüllen, bevor wir es in unser Sortiment aufnehmen“, sagt Thao. „Es muss einfach zu erlernen sein. Es muss eine Spieldauer von unter zwei Stunden haben. Es sollte für mindestens vier Personen geeignet sein und es darf nicht zu viel Platz beanspruchen.“ Erfüllt ein Spiel diese Kriterien und kann beim Probespielen überzeugen, wird es angeschafft. Die meisten Spiele bezieht Thao über einen Großhändler, nur selten bestellt sie direkt bei Verlagen. Zusätzlich bringen Freunde Spiele aus dem Urlaub mit. Thao will aber nicht nur ausländische Spiele anbieten, sondern auch vietnamesische. Sie möchte Nachwuchsautoren helfen. Dabei muss sie ganz von vorne beginne. „Die meisten Vietnamesen wissen nichts über moderne Autorenspiele. Deshalb gibt es auch so gut wie keine vietnamesischen Spieleautoren“, sagt Thao. Ein erstes Spiel eines vietnamesischesn Autors hat sie bereits veröffentlicht. Es heißt „Blink of Death“ (siehe Kasten) und ist von Tạ Thông. Anfang 2016 soll ein weiterer Autorenwettbewerb starten. Die Pläne dafür sind bereits ausgearbeitet. Wenn die Qualität der Einsendungen Thao überzeugt, folgt vielleicht schon bald das zweite BGV-Spiel. Die Unternehmerin hat noch weitere Pläne für die Zukunft: In vietnamesischen Spielzeugläden findet man momentan vor allem Plastikspielzeug. Wenn überhaupt Brettspiele vorhanden sind, dann das traditionelle Cờ tướng oder eine Monopoly-Variante. Thao möchte deshalb expandieren und Brettspiele im ganzen Land populär machen. Momentan ist der Laden in Ho Chi Thao City die einzige Filiale. In Zukunft würde Thao gerne auch im Norden, in der Hauptstadt Hanoi, oder in Zentralvietnam, in der Küstenstadt Đà Nẵng BGV-Geschäfte eröffnen. Bis es soweit ist, müssen Kunden aus anderen Städten Spiele über das Internet bestellen. Unter boardgamesviet.com betreibt Thao einen Online-Shop.
Spieleabend auf dem Boden
18:00 Uhr, Zeit für einen Ortswechsel. Thao kurvt mit ihrem Roller die Cao Thắng Straße entlang. Sie rauscht vorbei an Straßenhändlern, Restaurants und Geschäften. Sie parkt ihr Moped auf dem Bürgersteig und betritt ein Café. Dort treffen sich jeden Dienstag und Samstag etwa vierzig brettspielbegeisterte Vietnamesen. Die meisten von ihnen sind zwischen 15 und 30 Jahre alt, viele Studenten kommen hierher. Sie quetschen sich in zwei kleine Räume im ersten Stock des Cafés. Vor den Türen liegen Schuhe, vor allem Sandalen und Flip Flops. Tische suchen Besucher vergebens. Die Vietnamesen hocken sich auf die Fließen und schlagen ihre nackten Füße übereinander. Die meisten verweilen im Lotus-Sitz. Vor ihnen liegen Plättchen, Figuren und Karten. Daneben stehen Plastikbecher mit Bubble-Tee. Das ist ein Milch-Tee-Getränk mit schwarzen Tapioka-Perlen. Auf dem Boden des ersten Raumes breiten Spieler den Basar von Istanbul, die Ländereien von Dominion und die Wälder von Catan aus. Die Messe in Essen ist seit einigen Wochen vorbei. Während die europäische und amerikanische Brettspielszene unter dem Neuheiten-Fieber leidet, kommen hier für Kenner gefühlt uralte Spiele auf den Boden: Istanbul, Splendor, Catan, 7 Wonders, Rummy, Fangfrisch. „Es ist schwer und teuer an Neuheiten zu kommen“, sagt Thao. Trotzdem versucht die Unternehmerin etwa alle zwei Wochen ein möglichst aktuelles Spiel zu präsentieren. Schließlich will sie auf die Vielfalt der modernen Autorenspiele hinweisen. Und sie hofft durch neue Spiele auf neue Kunden in ihrem Laden.
Im zweiten Raum sitzen etwa zwanzig Personen im Kreis und diskutieren wild durcheinander. Sie spielen: Die Werwölfe von Düsterwald. Das Spiel ist in Vietnam besonders beliebt. Deshalb hat Thao zu Halloween ein Werwölfe-Turnier organisiert, mit mehreren Vorrunden und einem Finale. „Wir hatten über hundert Teilnehmer“, sagt die 24-Jährige. Zusammen mit ihren drei Mitarbeitern hat sie sich für das Turnier ein Punktesystem ausgedacht. Dadurch kann unter anderem, auch wer in der ersten Nacht stirbt, durch einen geheimen Tipp punkten. Neben Turnieren organisieren Thao und ihre Angestellten auch Aktionen in Einkaufszentren. Dort bauen sie Tische auf und zeigen Spiele wie Geistesblitz, Finstere Flure oder – passend zum Standort – Mall of Horror. Die Erfahrungen vor Ort sind unterschiedlich: „Viele Besucher laufen an den Tischen vorbei, ohne sich danach umzudrehen. Aber einige bleiben stehen und wir kommen ins Gespräch. Manche spielen sogar ein komplettes Spiel“, sagt Thao. Zusätzlich unterstützt BGV Wohltätigkeitsorganisationen, die mit Kindern in Waisenheimen spielen. Zum Einsatz kommen dann Spiele wie Jenga, Uno, We will rock you oder Schildkrötenrennen. Ziel aller Veranstaltungen ist es, Autorenspiele in Vietnam bekannter zu machen und neue Mitspieler für die wöchentlichen Treffen im Café Vanntana zu finden. Dort ist für heute Schluss. Es ist 22:00 Uhr. Die Spiele verschwinden in einer silbernen Truhe, die Besucher verlassen die zwei Räume, streifen ihre Flip Flops über die Füße und verlassen das Café. Thao setzt sich auf ihr Moped, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und knattert davon. Sie ist auf dem Weg in eine verspielte Zukunft.
Blink of Death
Das Kartenspiel Blink of Death ist das erste Spiel des vietnamesischen Autors Tạ Thông und das erste Spiel, das Boardgames Viet (BGV) produziert hat – in einer exklusiven Auflage von knapp dreißig Exemplaren. Inspiriert hat Thông ein Film, dessen Namen er vergessen hat. Dafür kann Thông sich noch genau an den Film-Bösewicht erinnern. Der Fiesling blinzelte regelmäßig mit seinen Augen und ängstigte so seine Mitmenschen. „Das hat mich beeindruckt und ich habe angefangen, mit dem Blinzeln zu spielen“ ,sagt Thông. So entstand Blink of Death, ein Spiel für vier bis zwölf Personen ab sechs Jahren. Eine Runde dauert maximal zehn Minuten und erinnert an eine Mischung aus Werwolf und Mogelmotte.
Jeder Spieler erhält verdeckt eine Rolle und ist Bürger, Dämon oder der Schutzengel. Die Dämonen wollen die Bürger mit einem bestialischen Blinzeln töten. Dabei dürfen sie sich nicht vom Schutzengel erwischen lassen. Nachdem alle ihre Rolle erhalten haben, deckt nur der Schutzengel seine Rollenkarte auf und das Spiel beginnt. Alle starren sich gegenseitig an und warten, dass ein Dämon einem Bürger zublinzelt. Ist das der Fall, stirbt der entsprechende Bürger. Der Schutzengel muss – ähnlich wie die Wächter-Wanze bei Mogelmotte – alle Spieler beobachten und herausfinden, wer die Dämonen sind. Gelingt ihm das, gewinnen die Bürger und der Schutzengel zusammen. Gelingt ihm das nicht, gewinnen die Dämonen. Während bei Werwölfe am Tisch lebhaft diskutiert wird, schweigen die Spieler bei Blink of Death. Die Kommunikation erfolgt über Blicke. Weiterer Unterschied: Die Bürger sind bei Blink of Death todgeweihte Statisten. Sie haben keine Möglichkeit, das Spiel aktiv zu beeinflussen und sind auf das Geschick des Schutzengels angewiesen. Neben den Standardrollen gibt es bei Blink of Death – wie bei Werwölfe auch – Sonderrollen, zum Beispiel einen Priester, eine Seherin oder einen Wechseldämonen.
Vietnam
Vietnam liegt in Südostasien. Das Land ist flächenmäßig etwa so groß wie Deutschland und grenzt an China, Laos und Kambodscha. In Vietnam leben etwa 93 Millionen Menschen. Moderne Autorenspiele kennen die wenigsten davon, dafür aber das traditionelle Brettspiel Cờ tướng. In Deutschland ist es bekannt als chinesisches Schach. Regiert wird das Land von der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV). „Ein Mehrparteiensystem und eine starke Bürgerbeteiligung lehnt die KPV ab. Es gibt keine organisierte Opposition. Verbände, Organisationen und die Gewerkschaft sind in der ,Vaterländischen Front‘ zusammengefasst und damit Teil des Systems“, informiert das Auswärtige Amt. Die KPV kontrolliert auch das Parlament, die Regierung und die Gerichte. Wirtschaftlich geht es in Vietnam aufwärts. Das liegt vor allem an Đổi mới. Der Begriff steht für eine wirtschaftsliberale Politik, eine Politik der sozialistischen Marktwirtschaft, die 1986 eingeführt wurde. Im Jahr 2014 betrug das Bruttoinlandsprodukt 188 Milliarden US-Dollar, beziehungsweise 2.072 US-Dollar pro Kopf. Allerdings ist das Volkseinkommen zwischen Stadt und Land ungleich verteilt. Nach wie vor leben laut Auswärtigen Amt sechzig Prozent der Bevölkerung auf dem Land, erwirtschaften dort aber nur zwanzig Prozent des Volkseinkommens. Wichtigste vietnamesische Exportprodukte nach Deutschland sind Schuhe, Textilien, landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Kaffee und Pfeffer, Meeresfrüchte sowie Elektronikartikel und Möbel. Wichtigste Einfuhrprodukte aus Deutschland sind Maschinen, Fahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände sowie Produkte der chemischen Industrie.Das wirtschaftliche Zentrum des Landes ist Ho-Chi-Thao-Stadt (früher Saigon). Dort befindet sich auch die Zentrale von Boardgames Viet (BGV).