Bäume aus Knete, Spielbretter aus Kühlschranktüren: Weil es westdeutsche Gesellschaftsspiele in der DDR nicht gab, wurden sie im Osten einfach nachgebaut. Ob “Monopoly”, “Sagaland” oder “Malefiz”, alle Klassiker des Klassenfeindes wurden in den volkseigenen Bastelstuben kopiert.
Dieser Artikel erschien erstmalig am 21. Oktober 2011 auf einestages – Zeitgeschichte auf Spiegel Online und am 28. Oktober 2011 auf zuspieler.de
Aktualisierung 16. Januar 2012: Sebastian Wenzel hat für diesen Artikel den ALEX-Medienpreis 2012 gewonnen. Der Artikel erschien ursprünglich am 28. Oktober 2011 auf zuspieler.de. Das Veröffentlichungsdatum wurde geändert, da nur so der Artikel an die erste Position auf der Startseite gehoben werden konnte. Die Jury schreibt in der Urteilsbegründung: “Wenzel […] verweist darauf, wie Spiele sich im besten Sinne grenzüberschreitend durchsetzen trotz Verbot und drohender Konsequenzen. Und so wird in diesem gut recherchierten – und viel diskutierten – Artikel auch ganz allgemein deutlich, welche Kraft in Spielen steckt und welche Kräfte sie in Menschen wachrufen können.
Richard Geis kippt die deutsche Vergangenheit auf den Tisch. Aus einer goldenen Kaffeetüte purzeln Spielzeug-Tannen und Würfel. Geis öffnet einen grauen Schnellhefter. Im Innern versteckt sich eine Zeichnung, eine bunte Märchenwelt. Dort fließt ein Fluss über das Papier, da bimmelt die Kirchturmuhr. Aus dem gemalten Traumschloss winkt der gestiefelte Kater, im Zauberwald pfeift der Wind durch die Wipfel. Unter jedem Baum versteckt sich ein Schatz: zum Beispiel Aschenputtels Ballschuh oder Dornröschens Spindel. Für Geis ist der wertvollste Schatz der Märchenwald selbst. Er ist ein Überbleibsel aus einem untergegangenen Land. Die Zeichnung gehört zum Gesellschaftsspiel “Sagaland”, oder besser: einer sehr speziellen Kopie davon. Handgefertigt in der DDR.
Es sind Unikate wie diese “Sagaland”-Ostkopie, die der Student Richard Geis zusammen mit seinem Kommilitonen Martin Thiele sucht und vor dem Mülleimer rettet. “Viele Menschen haben kein Bewusstsein dafür, dass sie etwas Besonderes besitzen. Das wollen wir ändern”, sagt Geis. Die zwei Freunde sammeln die Spielekopien und präsentieren im Internet und in Ausstellungen die Geschichten dazu.
Systemfeindlich und gefährlich
Die Geschichte des “Sagaland”-Spiels ist eine sehr persönliche – es stammt von Geis’ Mutter Christel Geithner, die ihren Kindern Weihnachten 1982 eine besondere Freude machen wollte und das Westspiel kopierte. Das Original lieh sie sich von Freunden im Dorf, die wiederum hatten es von Bekannten aus dem Westen. Für den Nachbau musste Geithner improvisieren. Mit Wachsmalstiften zeichnete sie auf die Innenseite eines Schnellhefters ein Städtchen als Startpunkt, einen Wald als Spielfläche und ein Schloss als Kartenablagestapel.
Die Kunststoffbäume formte Frau Geithner aus Suralin, einer knetbaren Masse, die im Backofen hart wird. Für die Spielkarten zerschnippelte sie Postkarten und zweckentfremde Poesie-Einklebbilder. Nur die Pöppel, die typischen Spielfiguren mit einem runden Holzkopf und dem dünnen Hals, musste sie nicht nachbauen. Die Männchen wanderten aus einem vorhandenen “Mensch ärgere dich nicht”-Spiel in ihre neue Heimat, die goldene Kaffeetüte. Die Verpackung schützt die Pöppel, Würfel und Bäume seit über zwanzig Jahren vor dem Staub der Geschichte.
Als “Sagaland” 1981 in der BRD erschien, wurde es schnell zum Klassiker unter den Gesellschaftsspielen. Doch auf der anderen Seite der Mauer bekam man davon nichts mit. Die SED hatte den Verkauf von Westspielen untersagt, sie galten als systemfeindlich und gefährlich.
Doch natürlich bewirkten die Verbote wie so oft das Gegenteil. Die DDR-Bürger schmuggelten die Originale eben in den Osten und kopierten sie mit Schere, Buntstiften und Kleber. Die Spiele made in GDR waren keine Seltenheit, das Nachmachen wurde ein regelrechter Volkssport. Vorlagen gab es genug: Klassiker wie “Monopoly”, “Malefiz” und “Vier gewinnt” oder damals moderne Brett- und Kartenspiele wie “Sagaland”, “Heimlich & Co” oder “Kuhhandel” wurden liebevoll improvisiert.
“Spielen stellt die Mächtigen in Frage”
Aber woher kam das große Interesse an Westspielen? “Sie waren nicht erhältlich und genau aus diesem Grund populär”, sagt Geis. Eine andere mögliche Erklärung: Die Ostspiele langweilten die DDR-Bürger. Der Gründer des Deutschen Spielemuseums, J. Peter Lemcke, schreibt in einem Aufsatz: “In der DDR gab es praktisch keine komplexen Spiele, keine innovativen neuen Spielformen. Woran hat das gelegen? Zum Spiel gehört auch das Querliegende, Unangepasste. Dabei sind Abweichungen vom Üblichen, die Unordnung, die Unsicherheit und die Umkehrfunktion von Spielen oft eine latente Bedrohung von vorherrschender Ordnung. Spiel stellt die Mächtigen in Frage.”
Beispiel “Monopoly”: “Während des Kalten Krieges war das Spiel im gesamten Ostblock verboten. Bereits Josef Stalin wollte sich wegen dessen angeblicher Dekadenz nicht damit anfreunden. Grund genug, das Spiel aus dem kapitalistischen Ausland zu verbieten”, heißt es beim Spielehersteller Hasbro. “Monopoly” sollte auch das Territorium der DDR nicht erreichen. Exemplare in Westpaketen wurden konfisziert.
Doch nicht nur die einfachen DDR-Bürger ignorierten die Anweisung. Sammler Thiele erinnert sich an die Begegnung mit einem ehemaligen Soldaten: “Der Mann arbeitete in der Nationalen Volksarmee. Dort bastelte er ein “Monopoly”-Brett, um sich die Zeit mit seinen Kameraden zu vertreiben. Damit seine Vorgesetzten es nicht entdeckten, versteckte er es auf der Rückseite eines Bildes. Das Gemälde hing in der Stube an der Wand und wurde bei Bedarf heruntergenommen und umgedreht.”
US-Staat in der Sowjetunion
Andere präsentierten ihre Nachbauten ganz offen. Matthias Göpner aus Zwickau arbeitete in der DDR als Heimerzieher. Er war stets auf der Suche nach neuen Ideen für seine Kindergruppen. Spiele entdeckte er bei Freunden, deren Westbekannte sie im Kofferraum nach Ostdeutschland geschmuggelt hatten. Göpner verwandelte Holzkugeln von Autositzschonbezügen in Spielsteine für ein dreidimensionales “Vier gewinnt”. Aufgespießt wurden sie auf umfunktionierten Fahrradspeichen.
Die Kopiemanie trieb mitunter auch seltsame Blüten. Für das Legespiel “Alaska” hatte Göpner einen Eisbären aus Suralin geformt. Weil aber die weiße Masse mit den Jahren nachdunkelte, wohnte bald ein Braunbär in Alaska. Göpner imitierte auch die Verpackungen – so gut das damals ging. “Bilder vom US-Bundesstaat Alaska waren in der DDR schwer zu bekommen. Im Spiel kam jedoch ein Hubschrauber vor. Also klebte ich ein Foto eines russischen Kampfhubschraubers auf die Schachtel und habe “Alaska” kurzerhand in die Sowjetunion verlegt.”
“Gehe in die Querstraße und bezahle”
Die Verpackung von “Alaska” ist eines von vielen Exponaten, die Geis und Thiele Anfang November in einer Ausstellung in Potsdam präsentieren. “Wir wollen damit die Erinnerung an die verspielten Seiten der DDR wachhalten. Die Nachbauten zeugen von der Kreativität der Leute. Die Menschen mussten alle Gegenstände nutzen, die sie zur Hand hatten. Für einige war das Nachbauen das Spiel selbst. Andere verarbeiteten persönliche Erlebnisse in den Kopien”, sagt Thiele.
Er schiebt einen Stapel Kärtchen auf den Tisch. Die Ereignis-Karten sind Teil einer “Monopoly”-Version aus Leipzig. Auf eine Karte ist gekritzelt: “Dein Kind hat sich ein Bein gebrochen, gehe in die Querstraße und bezahle.” An der Adresse stand früher tatsächlich die Leipziger Kinderchirurgie. Aus einem anderen “Monopoly”-Klon stammt eine Holzkiste mit mehreren Fächern. Miete, Versicherung und Sparbuch steht in Druckbuchstaben darüber. “Die Besitzerin sammelte dort ihr Haushaltsgeld. Dass später das “Monopoly”-Spielgeld darin landete, war Zufall”, sagt Geis.
Thiele und Geis wünschen sich, dass sie noch viele solche Schätze entdecken. Ihre Hoffnung: Je mehr Spielekopien sie in ihren Ausstellungen präsentieren, desto lebendiger bleibt die verspielte Vergangenheit der DDR. Bis es soweit ist, schützt die goldene Kaffeetüte Pöppel, Würfel und Karten vor dem Vergessen.