Die Gegenwart ist grausam und wunderschön. Sie ist bunt wie Konfetti, das auf einer Feier durch die Luft wirbelt. Sie ist schwarz wie ein verschmierter Kajal nach einer sexuellen Nötigung. Bücher und Filme thematisieren all diese Farben, all dieses Glück und Leid. Brettspiele nicht. Sie vermeiden in der Regel alles, was irritieren könnte, darunter Themen wie Tod, Homosexualität oder Depressionen. Warum ist das so?
Hinweis: Der Artikel erschien erstmals 2018 in der spielbox.
Beginnen wir bei Ravensburger. Der Verlag hat nur Wohlfühlprodukte im Programm und verzichtet bewusst auf kontroverse Themen in Spielen. Die Markenphilosophie basiert auf Freude, Bildung und Gemeinsamkeit. „Diese Werte finden sich selbstverständlich auch in unseren Spielen wieder. Brettspiele von Ravensburger stehen dabei für hohe inhaltliche und materielle Qualität sowie positiven Spielspaß. Alle unsere Brettspiele für Kinder und Familien, Würfel-, Karten- und Lernspiele sind bewusst vollkommen gewaltfrei. Denn Spielrunden mit allen Ravensburger-Spielen sollen großen Spaß machen und positive Erlebnisse und Momente vermitteln. Spiele mit negativ besetzten Themen können keine positiven Gemeinschaftserlebnisse vermitteln“, sagt Katrin Hanger, Sprecherin des Unternehmens.
Bei eggertspiele sah man das 2011 anders. Damals veröffentlichte der Verlag Village, in dem der Tod allgegenwärtig ist. Die Autoren Markus und Inka Brand wollten ein Spiel entwickeln, das das Leben in einem mittelalterlichen Dorf darstellt. Sie erinnern sich: „Schnell hatten wir die Idee, dass mehrere Generationen in dem Dorf leben. So kamen wir dazu, die Zeit als Ressource einzuführen. Wenn die Zeit vergeht, vergeht das Leben, dessen spielerisches Abbild wir schaffen wollten. Dadurch hielt der Tod Einzug in unser Spiel. Den Tod thematisch in das Spiel einzubetten, war für uns nie ein Problem. Unsere Figuren sterben einen natürlichen Tod, stets im hohen Alter – das ist der Lauf der Dinge. Das eine ist der pietätvolle Umgang mit dem Thema Tod, was uns – wie wir finden – gut gelungen ist. Unsere verstorbenen Figuren hinterlassen Spuren. Sie werden in der Chronik erwähnt und geraten in der Regel nicht in Vergessenheit. Das andere sind spielgestalterische Mittel, die notwendig sind, um ein Spiel gut zu machen.“ Bei Village ist der Tod eng mit der Spielmechanik verwoben. Die Figuren gehören unterschiedlichen Generationen an, werden geboren und sterben. „Dank des logischen Zeitmechanismus gehört der natürliche Rhythmus des Lebens wie selbstverständlich zu diesem schlüssig und übersichtlich komponierten Spiel“, äußerte sich die Jury „Spiel-des-Jahres“ lobend als sie Village zum als Kennerspiel des Jahres kürte.
Meist Wohlfühlszenarien und fiktive Welten
Dass der Tod in einem Spiel mit großer Auflage eine so wichtige Rolle einnimmt, ist jedoch die Ausnahme. Meisten werden statt Tabuthemen Wohlfühlszenarien angeboten, und die Reise führt in fiktive Welten. Dies ermöglicht es, den Alltag hinter sich zu lassen, zu entspannen und mit anderen Menschen unbeschwerten Spaß zu haben. „Schwierige, komplexe Themen erfordern eher eine inhaltliche Auseinandersetzung. Dies bieten unter anderem Bücher, wie sie auch im Ravensburger Buchverlag zu fi nden sind. Dort sind auch schwierige gesellschaftliche Themen abgebildet“, sagt Hanger. Trotzdem gibt es Brettspiele mit schwierigen Themen. In Freedom – The Underground Railroad unterstützen die Teilnehmer die Abschaffung der Sklaverei. In Manhattan Project bauen sie eine Atombombe, in Black Orchestra wollen sie Hitler ermorden.
Ein Verlag, der mehrere Titel mit ungewöhnlichen Themen im Programm führt, ist TerrorBull Games. In War on Terror finanzieren Spieler zum Beispiel Terroristen, ermutigen sie zu Selbstmordattentaten oder verbreiten als Vertreter der Gegenseite ihre Vorstellung von Demokratie auf der Welt. Den Personen hinter TerrorBull Games, Tom Morgan-Jones und Andrew Sheerin, geht es um mehr als Provokation, ihnen ist an der vielfältigen Darstellung von Themen gelegen. Morgan-Jones und Sheerin setzen oft auf Satire, aber nicht nur. „Satire eignet sich perfekt für Kritik und das Aussprechen harter Wahrheiten. Es gibt eine lange und ehrenvolle Humor- Tradition, die auf Hofnarren zurückgeht. Humor kann Schwachsinn offenlegen und Menschen ansprechen, die man mit ernsthaften Predigten nicht erreicht. Letztlich ist aber alles, was wir machen, eine suggestive Bühne auf der Spieler in Rollen schlüpfen, die sie übernehmen wollen. In War on Terror muss niemand so tun, als wären er ein durchgeknallter Verrückter ähnlich wie Kissinger, der zu unsäglichen Dingen fähig ist, aber es kann helfen. Die wahre Satire liegt in der Art und Weise, wie das Spiel gespielt wird, nicht in der Art und Weise, wie wir es präsentieren. Und genau deshalb lieben wir das Medium.“ Auch der Autor Ulrich Blum ist vom Medium Spiel fasziniert. Auch er will heikle Themen spielen, wünscht sich aber eine ernsthafte Auseinandersetzung damit. „Dazu gehört für mich vor allem eine Rolle, welche die Dilemmata der Akteure erlebbar macht. Denn hier liegt für mich genau die Chance von Spielen: Ich bin nicht nur Zuschauer, sondern erlebe und entscheide aktiv.“
A. Sheerin: „Spiele müssen keinen Spaß machen“
Gibt es trotzdem Themen, die nicht aufgegriffen werden sollten? „Sex, Tod, Religion, Krieg gehören mal mehr und mal weniger zum Leben dazu, sie sollten kein Tabu darstellen. Geht man mit dem nötigen Respekt an die Sache heran, können diese Themen wunderbar verspielt werden. Sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Tierquälerei, Misshandlung sind jedoch Themen, bei denen wir gar nicht nachdenken wollen, wie man so etwas in ein Spiel verpacken könnte. Wir sind dankbar, dass Verlage diese Themen nicht auf den Tisch bringen“, sagen Markus und Inka Brand. Sheerin sieht das anders. Für ihn sind Spiele eine Linse, durch die wir etwas über das Leben lernen, „eine legitime kreative Ausdrucksform und ein wertvolles Werkzeug zur Erforschung unterschiedlicher Themen“. Sie seien in vielen Fällen sogar besser geeignet für den Umgang mit schwierigen und tabuisierten Themen als lineare Medien wie Filme oder Bücher. „Spiele verlangen Interaktion und Entscheidungen – Entscheidungen, die Konsequenzen haben.“ Sheerin ist sich bewusst, dass viele Menschen Spiele als etwas wahrnehmen, dass nur vom Alltag ablenken und unterhalten soll. In diesem Zusammenhang wären Themen wie Vergewaltigung, Kindstod, Holocaust für ihn geschmacklos. „Aber so muss es nicht sein. Spiele, die mich interessieren, sind selten oberflächlich oder leichtfertig. Einige sind nicht einmal lustig. Ich glaube, Spiele müssen keinen Spaß machen. Spiele ermöglichen Erfahrungen. Meiner Meinung nach gibt es keinen Grund, diese Erfahrung mehr einzuschränken als die Erfahrung, die Bücher, Comedy, Filme, Tänze oder was auch immer ermöglichen.“
Kommentar: Mehr Mut
Die meisten Brettspiele entführen uns in weichgespülte pseudohistorische Szenarien oder Fantasiewelten. Das einzige, worüber die Teilnehmer dabei nachdenken, ist, wie sie noch effektiver Ressourcen in Siegpunkte tauschen können. Ich meine: Das sollte sich ändern. Natürlich sollte es weiterhin Fantasiewelten und weichgespülte pseudohistorische Szenarien geben. Aber etwas mehr Realismus und Auseinandersetzung mit kritischen Themen in Brettspielen wäre wünschenswert und hätte mehrere positive Effekte. Realistisch-kritische Themen sorgen für Denkanstöße bei den Spielern und tragen so dazu bei, Verhaltensmuster und Normen zu hinterfragen. Das kann nie schaden. Zweitens finden solche Spiele außerhalb der Szene eher Beachtung, vor allem Journalisten mögen Spiele vor allem, wenn sie aktuelle oder ungewöhnliche Themen aufgreifen. Drittens wären ernsthaftere Spiele eine Unterstützung für alle, die sich für dafür engagieren, dass Brettspiele als Kulturgut anerkannt werden. Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, Fremdenfeindlichkeit: Sollten Spiele wirklich solche Dinge thematisieren? Ja. Bücher und Filme tun dies schon lange. Das ist gut so, denn alles, was thematisiert wird, wird auch diskutiert. Ein Totschweigen hat noch niemandem geholfen; damit spielen, darüber reden und Sachverhalte reflektieren schon.