In Deutschland gibt es vergleichsweise wenige Journalisten, die professionell Gesellschaftsspiele rezensieren. Udo Bartsch ist einer davon. Für den Weser-Kurier ist “Bartsch in der Welt der Brettspiele so etwas wie Marcel Reich-Ranicki für die Literaturkritik”. Sein Urteil sei gefürchtet. Im Interview verrät das „Spiel des Jahres“-Jurymitglied, was eine gute Spielerezension ausmacht, wie Verlage auf negative Kritiken reagieren und welche Spieler er empfiehlt.
Hinweis: Dieses Interview erschien erstmalig 2012 auf zuspieler.de.
Bücher- oder Filmkritiken drucken fast alle Zeitungen und Zeitschriften, Spielerezensionen nicht. Warum?
Bei
den meisten Zeitungen muss sehr gespart werden. Die Auflagen sind seit
Jahren rückläufig, die Anzeigeneinnahmen erst recht. Also werden
Kolumnen gestrichen, Seiten, ganze Beilagen. Wenn man mit dem Thema
Spiele an eine Redaktion herantritt, heißt es ganz oft: Dafür haben wir
keinen Platz. Hinzu kommt, dass Spiele bei den Entscheidern in der
Redaktion keine Lobby haben. Die meisten Redaktionsleiter haben keinen
persönlichen Bezug zu Spielen. Außerdem sind Spiele wirtschaftlich
unbedeutend. Anders als Kinofilme oder Autos versprechen sie kein
Anzeigengeschäft.
Du hast es trotzdem geschafft und
testest Spiele für die Fachzeitschrift spielbox, aber auch für
Tageszeitungen und Stadtmagazine. Wie unterscheiden sich Deine
Rezensionen für die spielbox von denen für Publikumszeitschriften?
Sehr.
Meine Texte in Tageszeitungen sind erheblich kürzer, weniger
detailliert und im Stil herkömmlich. Für Tageszeitungen schreibe ich
auch nur sehr selten Negativkritiken. Erstens wird es von den
Redaktionen sowieso nicht gewünscht mit der Argumentation, man wolle
keinen Platz hergeben für etwas, was nicht empfehlenswert ist. Zweitens
sehe ich es in Tageszeitungen als meine Aufgabe an, für das Hobby Spiel
zu werben. Meine Kritikerleistung besteht hier überwiegend darin, das
Angebot zu selektieren, die besten Spiele herauszupicken und diese dann
vorzustellen.
Sind gedruckte Rezensionen überhaupt noch
zeitgemäß? Im Internet gibt es doch inzwischen zahlreiche Seiten, die
Spiele mit Videos vorstellen.
Klar sind gedruckte Kritiken
noch zeitgemäß. Online- und Print-Rezensionen erfüllen unterschiedliche
Lesebedürfnisse. Aus meiner Sicht ergänzen sie sich. Das Internet ist
gut für schnelle Information und vielfältige Meinungen. Aber ich muss
gezielt danach suchen. Tageszeitungen dagegen können das Thema Spiel an
Menschen herantragen, die sich noch nicht so stark dafür interessieren.
Und ein Fachmagazin wie die spielbox setzt auf Vertiefung und
Lesevergnügen durch inhaltliche Gründlichkeit und Fundiertheit,
professionellen Schreibstil und eine schöne optische Aufbereitung.
Unabhängig für welches Medium: Was sollte in einer guten Rezension auf keinen Fall fehlen?
Eine
Beschreibung, worum es geht, und ein Urteil. Wie ausführlich das
jeweils ausfällt und welche Aspekte herausgegriffen werden, hängt vom
vorhandenen Platz ab, von der Leser-Zielgruppe und der Absicht, die man
mit dem Text verfolgt. Ich bin nicht der Meinung, dass Rezensionen wie
ein technischer Test eine feststehende Checkliste abarbeiten sollten.
Zumal angeblich objektive Faktoren sowieso nur wenig über den Spielreiz
aussagen. Bei mir ist es jedenfalls so, dass ich in erster Instanz mit
dem Herzen urteile: Was erlebe ich bei dem Spiel? Was löst das Spiel bei
mir aus? Will ich es wieder spielen? Die Analyse kommt erst später. Ich
versuche anhand bestimmter Faktoren meine Empfindungen nachträglich zu
erklären und zu objektivieren. Aber ob ich das Spiel gerne spiele oder
nicht, das spüre ich schon längst vor der Analyse.
Anhand welcher Faktoren versuchst Du, Deine Empfindungen zu objektivieren?
Auch
hier gibt es keinen Katalog. Weil die Ursachen, warum mir ein Spiel
gefällt oder nicht gefällt, vielfältig sein können. Wenn es mir nicht
gefällt, liegt es vielleicht daran, dass ich es als wenig originell
empfinde. Oder die Mechanismen harmonieren nicht. Oder das Spiel wirkt
überfrachtet. Oder die Abläufe sind monoton. Und so weiter. Falls ich
ein Spiel gut finde, liegt es eventuell an der tollen Themenumsetzung.
Oder an einem originellen Wertungsdreh. Oder an der Tatsache, dass ich
viele alternative Strategiewege entdecke.
Eine Rezension ist keine Spielanleitung. Wie ausführlich müssen Regeln trotzdem beschrieben werden?
In
der Tageszeitung reichen im Extremfall zwei, drei Sätze. Bei längeren
Rezensionen wie zum Beispiel in der spielbox sollte eine Vorstellung von
dem Spiel entstehen und die Besonderheiten sollten klar werden. Ich
muss auf diejenigen Regeldetails eingehen, die für meine Beurteilung des
Spiels wichtig sind. Ich halte es aber nicht für notwendig, jede
Spielphase durchzuhecheln, alle Rollenkarten und ihre Spezialfunktionen
aufzuzählen oder die genaue Summe des Startkapitals zu beziffern. Ich
möchte, dass meine Rezensionen komplett gelesen werden und nicht nur der
letzte Absatz. Also versuche ich alles wegzulassen, was den Leser
ermüden könnte.
Im Endeffekt interessiert die meisten Leser wahrscheinlich vor allem, ob Dir ein Spiel gefällt oder nicht. In der spielbox vergibst Du Noten. Wie oft musst Du ein Spiel testen, um es gerecht zu bewerten?
Ich glaube nicht, dass Noten „gerecht“ sind. Insofern kann ich die Frage so nicht beantworten. Noten diesen als Kürzest-Information. Ein Spiel sortiere ich mit meiner Note in die Hierarchie der Spiele ein, die ich schon kenne. Das ist alles. Genauso gut könnte ich auch das Mittagessen, das Wetter oder ein Live-Konzert mit einer Note versehen.
Zur Frage nach der Testhäufigkeit: Wenn ich ein Spiel teste, um es zu rezensieren, spiele ich es so häufig, bis ich mir meines Urteils sicher bin. Das kann unterschiedlich schnell gehen und es kommt auch darauf an, welche Aspekte mir in der Rezension wichtig sind. Wenn ich den Nachweis erbringen möchte, dass Mechanismen unbalanciert sind, zieht das mehr Tests nach sich. Eine Beschreibung des Spielgefühls geht schneller. Schwierig ist die Abgrenzung eines guten von einem sehr guten Spiel. Sehr gut ist ein Spiel für mich erst dann, wenn es das Potenzial hat, mich langfristig zu fesseln. Und um das festzustellen, muss ich es wirklich sehr, sehr oft gespielt haben. Die Burgen von Burgund habe ich mittlerweile 30 oder 40 Mal gespielt, und deshalb bin ich mir meiner vergebenen neun Punkte extrem sicher. Die Abgrenzung zwischen einem schlechten und einem sehr schlechten Spiel finde ich dagegen vergleichsweise uninteressant, und ich würde mich auch nicht bemühen, das allzu intensiv zu ermitteln.
Jetzt willst du aber sicherlich auch mal eine Hausnummer hören. Also: Bevor ich ein Spiel in der spielbox bespreche, versuche ich, eine zweistellige Zahl von Partien zu spielen. Meist schaffe ich das auch. Aber nicht immer. Und manchmal ist es auch überhaupt nicht notwendig.
Wann zum Beispiel?
Freeze
habe ich vor meiner Rezension nicht zehn Mal spielen müssen. Weil
dieses Spiel aber so ganz anders ist als andere Spiele und weil man hier
sehr schnell unheimlich viele erinnerungswürdige Erlebnisse hat,
reichen weniger Partien, um genügend Stoff zusammenzukriegen und zu
wissen, was das Spiel leisten kann.
Zurück zu den
Tageszeitungen. Du hast gesagt, Deine Kritikerleistung besteht hier
darin, „das Angebot zu selektieren die besten Spiele herauszupicken und
diese vorzustellen.“ Wie viele der Essen- und Nürnberg-Neuheiten hast Du
schon gespielt?
Alle, die mir vorliegen. Und teilweise auch
welche, die ich zwar nicht selber besitze, aber irgendeiner meiner
Mitspieler. Pro Jahr erlerne ich knapp 150 neue Spiele.
Wie schaffst Du das?
Ich
spiele vier bis fünf Mal die Woche. Sowohl mit Vielspielern als auch
mit spielinteressierten Laien, die noch nie von Reiner Knizia, der
spielbox oder womöglich nicht einmal von den Siedlern von Catan gehört
haben. Ich spiele bei mir zu Hause, bei Freunden, auf öffentlichen
Spieletreffs, an der Uni und so weiter.
Wie behältst Du bei so vielen Spieleabenden und Spielen den Überblick? Führst du Listen?
Ich
liebe Listen, also führe ich auch welche. Beispielsweise habe ich es
mir zur Angewohnheit gemacht, meine Mitspieler am Ende eines
Spieleabends die gespielten Spiele benoten zu lassen. Das ist mir
besonders in öffentlichen Spielerunden wichtig, wo ich nicht mitbekomme,
was an den anderen Tischen passiert, und auch nicht mit jedem
Teilnehmer reden kann. Für Rezensionen in meinem Blog oder in der
spielbox spielen diese Mitspieler-Noten zwar keine Rolle. Hier gehe ich
davon aus, dass die Leser wissen wollen, wie Udo Bartsch das Spiel
findet und nicht sein Mitspieler Karl-Heinz. Aber für
Tageszeitungskritiken sind solche Noten hilfreich. Nicht in dem Sinne,
dass ich gute Noten meiner Mitspieler sofort als mein eigenes Urteil
übernehme. Sondern als Hinweis, dass ich bestimmte Spiele aus meiner
persönlichen Warte bislang vielleicht unterschätzt habe und mir im
Hinblick auf die Zielgruppe noch einmal genauer vornehmen sollte. Oder
umgekehrt: Dass ich ein Spiel, von dem ich glaubte, es müsse jedem
gefallen, noch einmal kritischer betrachten muss.
Du bist darauf angewiesen, dass Dir die Verlage Rezensions-Exemplare senden. Wie beeinflusst diese Abhängigkeit Deine Arbeit?
Ich glaube nicht, dass mich das beeinflusst. Verlage gehen in aller Regel sehr professionell mit Kritik um.
Kommt es trotzdem vor, dass Redakteure oder Pressesprecher über eine Note diskutieren wollen?
Es
kommt selten vor. Ich kann natürlich nachvollziehen, dass ein Verlag
von seinem Spiel überzeugt ist. Sonst hätten sie es ja nicht
veröffentlicht. Zu einem Konsens könnten wir in einer Diskussion aber
schwerlich kommen. Denn auch ich hätte meine Kritik nicht
veröffentlicht, wenn ich nicht überzeugt von ihr wäre. Aber noch mal:
Das passiert wirklich sehr selten. Eher als von Verlagen bekomme ich ab
und zu negative Rückmeldungen von Spielern, die sich im Netz darüber
äußern, dass sie mit meinem Rezensions-Stil oder den Noten nicht
einverstanden sind.
Wie wichtig sind Dir solche Rückmeldungen?
Als
Rezensent bekommt man im Allgemeinen wenig Feedback. Wenn meine Texte
diskutiert werden, ist das also auf jeden Fall ehrenvoll. Ich erfahre,
dass Leute meine Artikel gelesen haben und es wert finden, sich darüber
auszutauschen. Das ist gut.
Letzte Frage: Welche drei Spiele würdest Du aktuell unseren Lesern besonders ans Herz legen und warum?
Die aktuell besten Spiele sind für mich – immer noch – Agricola und Dominion. Beide habe ich unzählige Male gespielt, aber mein Verlangen danach fühlt sich weiterhin vollkommen ungestillt an. Wenn es noch aktueller sein soll, lautet mein Geheimtipp: Einfach mal in mein Blog Rezensionen für Millionen schauen.