Die Siedler von Catan. Foto: Kosmos, 2020

Lehrstücke für Strategen

Moderne Gesellschaftsspiele wie „Die Siedler von Catan“ sind Einführungen in unternehmerisches Denken und Handeln. Selbst ausgebuffte Manager können am Spieltisch noch etwas lernen.


Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmalig in der Wirtschaftswoche 5/2013 und dann auf zuspieler.de

Kai-Oliver Brand ist verzweifelt. Der Associate Director der DZ Bank sucht nach Lehm. Nur damit kann er eine neue Produktionsstätte errichten und expandieren. Den perfekten Standort hat er schon gefunden: das Gebirge am Wald. Bauarbeiter haben dort einen Stollen in die Berge getrieben und ein riesiges Erzvorkommen entdeckt. Aber ohne Lehm kein Produktionsgebäude und kein Erz. Brand blickt zu seinem Konkurrenten. Er könnte Lehm liefern. Doch der Mitbewerber schüttelt den Kopf. Die Verhandlung ist beendet, bevor sie angefangen hat. Einen Trumpf hält Brandt noch in der Hand. Er spielt seine Kontakte zur Unterwelt aus. Räuber sabotieren in Brands Auftrag die gegnerische Lehmgrube und legen die Produktion lahm. Das Opfer nickt anerkennend. Kein feiner, aber ein guter, regelkonformer Zug.

Ökonomisches Denken am Wohnzimmertisch

Beim Gesellschaftsspiel „Die Siedler von Catan“ kämpfen erfahrene Spieler mit harten Bandagen. Catan ist eines der erfolgreichsten Spiele der vergangenen Jahre – und ein Lehrstück in Ökonomie. Auf der Spielwarenmesse in Nürnberg erscheint diese Woche die vierte große Catan-Erweiterung. Sie heißt „Entdecker und Piraten“ und macht das Spiel noch komplexer. Längst gibt es digitale Versionen für Laptops wie für Tablets oder Mobiltelefone. Auch andere Verlage präsentieren in Nürnberg Spiele, mit denen Manager strategisches Denken trainieren oder ihr Verhandlungsgeschick schulen. „Im Spiel erfährt man viel über das Verhalten seiner Mitmenschen. Das hat auch im realen Leben Vorteile“, sagt Klaus Teuber, der Erfinder von Catan.

In seinem Spiel sammeln die Teilnehmer Lehm, Erz, Holz, Wolle und Getreide. Mit den Rohstoffen bauen sie Siedlungen oder investieren in den technischen Fortschritt. Das Grundspiel erfand der gelernte Zahntechniker 1995. Es ist Teubers Meisterwerk und hat sich weltweit über 18 Millionen Mal verkauft. Catan ist sozusagen das „Monopoly“ der Neuzeit. Unter deutschen Managern hat es dem Klassiker bereits den Rang abgelaufen. Auf der Online-Plattform Xing verraten 228 Personen, dass sie „Die Siedler von Catan“ mögen. Darunter Geschäftsführer, Unternehmensberater und Projektmanager. „Monopoly“ kommt nur auf 72 Anhänger. Auch bei amerikanischen Managern ist Catan beliebt. Besonders viele Fans hat es im Silicon Valley. Der Facebook-Chef Mark Zuckerberg spielt es, schreibt die „Washington Post“. Und der Mitbegründer von LinkedIn, Reid Hoffman, schwärmt im „Wall Street Journal“: „Die unterschiedlichen Würfelergebnisse zwingen die Spieler ständig dazu, ihre Strategie an die veränderten Gegebenheiten anzupassen. Das ist, als ob man ein Startup leitet.“

Zeit zu Expandieren

Brand ist glücklich. Auf diesen Moment hat er gewartet. Endlich ist die Summe der zwei weißen Würfel eine Sechs. Endlich produziert seine Siedlung Lehm. Das zeigt ein Chip auf der Lehmgrube an. Darauf prangt ebenfalls eine Sechs. Immer wenn Würfelergebnis und die Zahl auf dem Chip übereinstimmen, darf Brand Rohstoffe in die Hand nehmen. Sein Lager ist gefüllt. Zeit zu expandieren. Der Banker errichtet eine weitere Siedlung. Die Erzproduktion kann beginnen. Eine kluge Entscheidung: „Der größte Anfängerfehler ist es, zu Beginn den Bau von Siedlungen zu vernachlässigen und nur in die Siegpunktekarte ,Längste Handelsstraße‘ zu investieren“, sagt Teuber. „Das ist, als würde ein Unternehmen Investitionen tätigen, die kurzfristig das Renommee heben, aber keinen nachhaltigen Ertrag erwirtschaften.“

Die Gemeinsamkeiten zum Alltag in der Bank oder dem Büro sind bei Gesellschaftsspielen nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Viele Spiele entführen eher in Fantasiewelten. Die meisten Menschen möchten beim Spielen nicht an die tägliche Arbeit erinnert werden. Deshalb kleiden Verlage Wirtschaftsspiele häufig gern in ein historisches Gewand. „Beliebte Schauplätze sind Norditalien während der Renaissance oder die Niederlande während der Reformationszeit. Damals tauchten viele der noch heute gültigen ökonomischen Grundmechanismen erstmals auf“, sagt der Sprecher der Spiele-Autoren-Zunft Ulrich Blum. Und noch eines haben viele Spiele gemeinsam: Bei fast allen funktioniert der Kapitalismus wie im Lehrbuch. Finanzkrisen oder Konsumentenboykotte sind Fremdwörter. „Niemand will sich am Spieltisch mit Krisen beschäftigen“, sagt Blum. Spiele mit reinen Wirtschaftsthemen haben es schwer. Sie erscheinen entweder bei Kleinverlagen oder verschwinden nach wenigen Jahren wieder vom Markt. So wie „Schwarzer Freitag“ von Friedemann Friese, das Kosmos 2010 veröffentlichte. Das Spiel thematisiert einen Börsencrash. Doch der Absatz stürzte anscheinend ins Bodenlose wie die Aktienkurse während einer Wirtschaftskrise. Kosmos verkauft heute nur noch Restposten.

Der Erfolgsgrund von Catan

Das ist bei „Die Siedler von Catan“ anders. Regelmäßig veröffentlicht Kosmos Erweiterungen oder Varianten davon. Der Erfolg von Catan hat mehrere Gründe: Der Spielplan ist anders als bei „Monopoly“ sehr variabel. Außerdem müssen die Spieler ständig miteinander verhandeln. Sie feilschen um knappe Ressourcen. Und sie müssen sich schon zu Spielbeginn für eine Siegstrategie entscheiden – genau wie in der Wirtschaft. „Wer sein Ziel schwammig definiert, scheitert. Zugleich muss die Strategie so flexibel sein, dass sie Störmanöver der Konkurrenten aushält“, sagt Brand. Auch das Verhalten am Spieltisch erinnert den Associate Director an den Umgang in der Bank.

Brand ist erleichtert. Eben hetzte der Banker seinem Konkurrenten noch die Räuber auf die Lehmgrube, nun offeriert er ihm Wolle. Dafür hätte Brand gerne zwei Getreide. Erneut schüttelt der Mitspieler den Kopf. Brand erhöht auf zwei Wolle-Karten. Sein Gegner lacht. Bei drei Wolle- gegen zwei Getreide-Karten ist der Tausch perfekt. „Der ein oder andere regelkonforme Zug schadet dem Gegner. Gleichzeitig darf man es sich mit den Mitspielern nicht verscherzen. Sie werden als Tauschpartner benötigt“, sagt Brand. Er investiert die Rohstoffe in eine Stadt. Das erhöht seine Produktion. Statt einer erhält er beim passenden Würfelwurf nun zwei Ressourcen.

Längst hat sich auch die Wissenschaft mit Catan beschäftigt. Martin Horsten untersuchte das Spiel in seiner Diplomarbeit. Sein Ergebnis: Schüler lernen bei „Die Siedler von Catan“, wie ein steigendes Angebot oder eine sinkende Nachfrage die Preise beeinflussen. Außerdem zeige das Spiel, warum der Standort einer Firma ein wichtiger Erfolgsfaktor ist. Nur wer seine Siedlungen an der richtigen Stelle platziert, produziert die nötigen Ressourcen.

Diese und andere ökonomische Zusammenhänge lernen Jugendliche nicht nur bei Brett-, sondern auch bei Computerspielen. Bei „Anno 2070“ erkunden die Spieler am Bildschirm ebenfalls Inseln und bauen Wirtschaftskreisläufe auf. Da der Rechner die Verwaltungsarbeit übernimmt, sind diese Kreisläufe wesentlich komplexer als auf Catan. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert das PC-Spiel „Die Siedler“, das nur zufällig einen gleichklingenden Namen trägt wie „Die Siedler von Catan“. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga beschreibt in seinem Buch „Homo Ludens“ den Zusammenhang zwischen Spielen und Wirtschaft: „Das Element der Leidenschaft, der Gewinnaussicht, des Wagens haftet ebenso am wirtschaftlichen Unternehmen wie am Spiel.“

Wagnis und Gewinn

Das gilt auch für „Airlines Europe“ von Alan R. Moon. Das Gesellschaftsspiel erschien erstmals vor mehr als 20 Jahren bei Abacusspiele. 2011 veröffentlichte der Verlag eine überarbeitete Version. Die Teilnehmer des Spiels handeln mit Aktien von Fluggesellschaften. Und vor über fünf Jahren kam bei Lokout Spiele ein moderner Klassiker heraus: „Agricola“ von Uwe Rosenberg erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Komplexität. Die Spieler schlüpfen in die Rolle von Landwirten und leiten einen Bauernhof. Nur wer seine Produktion diversifiziert und Rinder, Schafe sowie Schweine züchtet, hat Chancen auf den Sieg. Vorausgesetzt, er hat auch sein Haus modernisiert und nicht vergessen, Gemüse und Getreide anzubauen.

Spiele wie „Agricola“ oder „Die Siedler von Catan“ verlangen von den Teilnehmern mehr ökonomischen Verstand als das vermeintliche Wirtschaftsspiel schlechthin: „Monopoly“ ist vergleichsweise simpel. Trotzdem fürchteten sich einige Politiker vor dem Spiel. Im Ostblock existierte „Monopoly“ offiziell erst seit Ende der Achtzigerjahre. Die Machthaber waren sich einig: Das Spiel um Mieten und Moneten stachele die Raffgier an.

Die DDR-Bürger ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie schmuggelten „Monopoly“ nach Ostdeutschland und spielten es heimlich. Bei „Die Siedler von Catan“ war das Versteckspiel nicht mehr nötig. Als Catan 1995 erschien, war die Mauer längst gefallen und die Marktwirtschaft Alltag – auf dem Spieltisch und im echten Leben.

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